Soziologie-ein fliegender Holländer? https://soziologiedesunbewussten.blogspot.be/2015/12/blog-post

Soziologie- ein fliegender Holländer?

Mein Artikel aus "soziologie heute", Oktober 2015, s. Blog-Artikel vom 2.12.2015

Montag, 26. Februar 2018

Searle 1994: Rationalität und Realismus!


John R. Searle (geb. 1932): Rationalität und Realismus oder Was auf dem Spiel steht. Aus dem Englischen von Siegfried Kohlhammer. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 48 (1994) 377-391.
Es gibt eine Auffassung von Realität und der Beziehung zwischen Realität einerseits und Denken und Sprache andererseits, die eine lange Geschichte in der intellektuellen Tradition des Westens hat. Diese Auffassung ist tatsächlich so fundamental, dass sie jene Tradition bis zu einem gewissen Grade bestimmt. Sie schließt eine ganz bestimmte Auffassung von Wahrheit, Vernunft, Realität, Rationalität, Logik, Wissen, Evidenz und Beweis ein. Ohne allzu große Übertreibung kann man diese Auffassung als "die Westliche Rationalistische Tradition" bezeichnen. Die Westliche Rationalistische Tradition tritt in verschiedenen Formen auf, aber sie liegt beispielsweise der westlichen Auffassung von Wissenschaft zugrunde. Die meisten praktizierenden Wissenschaftler betrachten sie einfach als selbstverständlich. Der einfachsten Auffassung von Wissenschaft zufolge besteht das Ziel der Wissenschaft darin, zu einer Reihe wahrer Sätze, im Idealfall in der Form präziser Theorien, zu gelangen, die wahr sind, weil sie - zumindest annäherungsweise - mit einer unabhängig existierenden Realität übereinstimmen. Auf einigen anderen Gebieten, etwa dem der Rechtsprechung, hat die Westliche Rationalistische Tradition einige interessante Veränderungen erfahren und existiert sicher nicht mehr in ihrer reinen Form. In der Rechtsprechung gibt es zum Beispiel Verfahrensregeln und Regeln der Beweisführung, an die man sich selbst in den Fällen hält, wo allen Beteiligten klar ist, dass sie die Wahrheit nicht ans Licht bringen. Ja man hält sich auch in den Fällen daran, wo es offensichtlich ist, dass sie die Wahrheitsfindung verhindern. Die Westliche Rationalistische Tradition stellt weder in ihrer Geschichte noch in ihrer gegenwärtigen Praxis eine einheitliche Tradition dar.
Zwei Formen dieser Uneinheitlichkeit müssen besonders betont werden. Erstens wurden auch die am innigsten gehüteten Annahmen der Westlichen Rationalistischen Tradition jederzeit in Frage gestellt. Es gab selten Einstimmigkeit oder auch nur Konsens. Zweitens haben sich diese Annahmen mit der Zeit herausgebildet, in der Regel als Reaktion auf Infragestellungen. Zum Beispiel haben die Bedeutung sakraler Texte wie der Heiligen Schrift zur Bestätigung von Wissensansprüchen, die Bedeutung mystischer Erkenntnis als Quelle von Wissen und die Bedeutung des Übernatürlichen im allgemeinen spektakulär abgenommen mit der Entzauberung der Welt, die, grob gerechnet, mit dem Anbruch des Zeitalters der Moderne im 17.Jahrhundert begann. Jeder Versuch, die Westliche Rationalistische Tradition zu charakterisieren, laboriert deshalb notwendig an einer gewissen Übersimplifizierung oder gar Verzerrung. Überdies erfolgt jeder Versuch, ihren gegenwärtigen Stand zu beschreiben, wie der, den ich zu unternehmen im Begriff bin, notwendig aus der Perspektive eines bestimmten Denkers zu einem bestimmten Zeitpunkt und Ort - wie sie ihm erscheint, hier und jetzt. Und übrigens gehört die Anerkennung dieser Begrenztheit - dass Genauigkeit und Objektivität schwer zu erreichen sind, weil Darstellung immer aus einer bestimmten Perspektive und unter bestimmten Aspekten und nicht anderen erfolgt - zu den zentralen erkenntnistheotetischen Prinzipien der Westlichen Rationalistischen Tradition in ihrer gegenwärtigen Gestalt.
Ich glaube dass ein entscheidender Schritt bei der Schaffung der Westlichen Rationalistischen Tradition die Entwicklung des Theoriebegriffs bei den Griechen war. Die genaue Fassung dieses Punktes ist wichtig. Viele Merkmale der Westlichen Rationalistischen Tradition - die Voraussetzung einer unabhängig existierenden Realität und die Voraussetzung, dass Sprache, zumindest gelegentlich, dieser Realität entspricht - sind wesentlich für jede erfolgreiche Kultur. Man kann nicht überleben, wenn man nicht in der Lage ist, mit der wirklichen Welt zurechtzukommen, und zu der für Menschen charakteristischen Art und Weise, mit der wirklichen Welt zurechtzukommen, gehört wesentlich, sie für sich selbst sprachlich darzustellen. Aber die Einführung des Theoriebegriffs ermöglichte es der westlichen Tradition, etwas ganz Einzigartiges hervorzubringen, nämlich systematische intellektuelle Konstrukte, die entworfen worden waren, um weite Bereiche der Realität auf eine logisch und mathematisch zugängliche Weise zu beschreiben und zu erklären. Euklids Elemente stellen ein Modell dar für die Art der logischen Beziehungen, die beispielhaft für die westliche Tradition waren. Die Griechen verfügten tatsächlich über fast alles, was für eine Theorie im modernen Sinne nötig ist. Ein wesentliches Moment aber, das ihnen fehlte und das Europa erst mit der Renaissance bekam, war die Idee systematischer Experimente. Die Griechen verfügten über Logik, Mathematik, Rationalität, Systematik und die Idee eines theoretischen Konstrukts. Aber die Idee, theoretische Konstrukte an einer unabhängig existierenden Realität durch systematisches Experimentieren zu messen, kam wirklich erst sehr viel später dazu. Ich greife jedoch voraus.
Ein weiteres Merkmal der Westlichen Rationalistischen Tradition ist ihre selbstkritische Tendenz. Immer sind Elemente dieser Tradition in Frage gestellt worden; sie war nie eine einheitliche Tradition. Kritik bedeutete immer, jede Überzeugung an den rigorosesten Standards von Rationalität, Evidenz und Wahrheit zu messen. Sokrates ist vor allem deshalb der Held des intellektuellen Zweigs der Westlichen Rationalistischen Tradition, weil er nichts ohne Argument akzeptierte und unerbittlich alle Versuche, philosophische Probleme zu lösen, kritisch überprüfte. In letzter Zeit hat jedoch das selbstkritische Element der Westlichen Rationalistischen Tradition eine eigenartige Konsequenz gehabt. Wenn es aller Kritik wesentlich darum geht, alle Überzeugungen, Behauptungen, Vorurteile und Voraussetzungen der rigorosesten Überprüfung durch das Vergrößerungsglas von Rationalität, Logik, Beweis etc. zu unterziehen, warum sollte dann die Kritik schließlich nicht auch gegen Rationalität oder Logik oder Beweis selber gerichtet werden? Das heroische Zeitalter der Westlichen Rationalistischen Tradition begann mit und nach der Renaissance, als die Bekenntnisse und Dogmen des Mittelalters immer schonungsloser der Kritik unterzogen wurden, bis wir schließlich bei der europäischen Aufklärung anlangten und dem Skeptizismus beispielsweise eines Hume und Voltaire. Aber warum sollten wir nun nicht auch Rationalität, Logik, Evidenz, Wahrheit, Realität etc. selbst gegenüber skeptisch sein? Wenn die unkritische Annahme des Glaubens an Gott zerstört werden kann, warum soll man dann nicht auch die unkritische Annahme des Glaubens an die Außenwelt, des Glaubens an Wahrheit, des Glaubens an Rationalität, ja des Glaubens an das Glauben zerstören? An diesem Punkt wird die Westliche Rationalistische Tradition nicht nur selbstkritisch, sondern selbstzerstörerisch. Nietzsche kann, einer möglichen Interpretation nach, sowohl als Diagnostiker wie als Paradigma dieses selbstzerstörerischen Moments betrachtet werden. Nietzsche ist ein Philosoph von erheblicher thematiseher Breite, aber schlimmstenfalls beweist er einen entschiedenen Mangel an Argumenten und eine Tendenz, Vernunft durch Rhetorik zu ersetzen. Der interessante Punkt für die gegenwärtige Diskussion ist, dass er wieder Mode geworden ist. Der Grund dafür sind, glaube ich, seine Angriffe auf verschiedene Aspekte der Westlichen Rationalistischen Tradition. Es ist nicht einfach, in seinen Angriffen irgendwelche Argumente ausfindig zu machen, von Beweisen ganz zu schweigen.
 
Einige Grundprinzipien der Westlichen Rationalistischen Tradition
Die Westliche Rationalistische Tradition wird manchmal des Logozentrismus beschuldigt; vor wenigen Jahrzehnten wurde dieselbe Art von Einwand gegen etwas erhoben, was "lineares Denken" genannt wurde. Was genau akzeptiert man, wenn man "logozentrisch" ist, das heißt, wenn man das griechische Ideal des "Logos" oder der Vernunft akzeptiert? Worauf ist man festgelegt, wenn man sich an "linearem Denken" beteiligt, das heißt, wenn man versucht, klar zu denken? Wegen der enormen Vielfalt der Westlichen Rationalistischen Tradition, die ich eingangs erwähnte, könnte es unmöglich scheinen, auch nur den gröbsten Überblick zu geben, aber es gibt einen einfachen Test, um das Zentrum von der Peripherie zu unterscheiden, nämlich die Frage, was die Angriffe gegen die Tradition anzugreifen für nötig halten, was die Infragestellungen in Frage zu stellen für nötig halten. Es gibt zum Beispiel eine Menge Wahrheitstheorien, aber jeder, der die Tradition in Frage stellen will, muß die Korrespondenztheorie der Wahrheit angreifen. Die Korrespondenztheorie ist die Norm, die Standard-Position; die anderen Positionen definieren sich in Relation zu ihr. Ebenso gibt es zahlreiche Versionen von Realismus und Idealismus, aber jeder, der die allgemein akzeptierte Ansicht auf diesem Gebiet angreifen will, muß die Idee angreifen, dass es eine bewußtseinsunabhängige Realität gibt, eine wirkliche Welt, die vollkommen unabhängig von unserem Denken und Reden existiert.
Wir können die wesentlichen Elemente der Westlichen Rationalistischen Tradition nicht dadurch ausfindig machen, dass wir einfach die Lehren der großen Philosophen untersuchen. Der wichtige Punkt ist oft nicht das, was der Philosoph gesagt hat, sondern das, was er als etwas, das zu offensichtlich ist, als dass es der Erwähnung bedürfte, für selbstverständlich hielt. Einige der bekanntesten Philosophen wurden berühmt, weil sie zentrale Elemente der Westlichen Rationalistischen Tradition angegriffen haben - Berkeley, Hume und Kant zum Beispiel. Der Einfachheit halber werde ich in einer Reihe von Sätzen darlegen, was ich für einige der grundlegenden Theoreme der Westlichen Rationalistischen Tradition halte.
Realität existiert unabhängig von ihren Darstellungen durch Menschen. Diese Ansicht, "Realismus" genannt, ist das grundlegende Prinzip der Westlichen Rationalistischen Tradition. Gemeint ist damit; dass es trotz unserer mentalen und sprachlichen Darstellungen der Welt in der Form von Überzeugungen, Erfahrungen, Aussagen und Theorien eine Welt "da draußen" gibt, die von diesen Darstellungen völlig unabhängig ist. Das hat zum Beispiel zur Folge, dass die Welt, wenn wir sterben, und das werden wir, größtenteils unbeeinflußt von unserem Ableben weitergehen wird. Mit dem Realismus vereinbar ist die Anerkennung der Tatsache, dass es weite Bereiche der Realität gibt, die in der Tat gesellschaftliche Konstrukte sind. Solche Dinge wie Geld, Eigentum, Ehe und Regierungen werden durch kooperatives menschliches Verhalten geschaffen und erhalten. Nimmt man alle menschlichen Darstellungen weg, dann hat man Geld, Eigentum und Ehe weggenommen. Aber es ist ein grundlegendes Prinzip der Westlichen Rationalistischen Tradition, dass es auch weite Bereiche der Welt gibt, die von unseren Darstellungen beschrieben werden und völlig unabhängig davon und irgendwelchen anderen möglichen Darstellungen existieren. Die elliptische Umlaufbahn der Planeten um die Sonne, die Struktur des Wasserstoffatoms und die Menge des Schneefalls auf dem Himalaya sind zum Beispiel völlig unabhängig sowohl von dem System wie den konkreten Einzelfällen der menschlichen Darstellungen dieser Phänomene.
Dieser Punkt bedarf einer sorgfältigen Darlegung. Das Vokabular oder System der Darstellung, mit dem ich diese Wahrheiten darstellen kann, ist von Menschen geschaffen, und die Motivationen, die zur Untersuchung solcher Dinge veranlassen, sind kontingente Merkmale der menschlichen Psyche. Ohne eine Reihe sprachlicher Kategorien kann ich keine Aussagen über diese Dinge oder über sonst irgend etwas machen. Und ohne eine Reihe von Motivationen würde sich niemand die Mühe machen, das zu tun. Aber die konkreten Situationen in der Welt, die mit diesen Aussagen übereinstimmen, sind nicht von Menschen geschaffen oder von ihren Motivationen abhängig. Diese Auffassung von Realismus bildet die Grundlage der Natutwissenschaften.
Zumindest eine der Funktionen von Sprache besteht darin, Bedeutungen von Sprechern zu Hörern zu übermitteln, und manchmal ermöglichen diese Bedeutungen es der Kommunikation, sich auf Gegenstände und Zustände in der Welt zu beziehen, die sprachunabhängig existieren. Die Grundauffassung von Sprache in der Westlichen Rationalistischen Tradition umfaßt sowohl den kommunikativen wie den referentiellen Charakter der Sprache. Dem Sprecher kann es im großen und ganzen gelingen, Gedanken, Vorstellungen und Bedeutungen einem Hörer mitzuteilen; und Sprache kann von Sprechern benutzt werden um sich auf Gegenstände und Zustände zu beziehen, die unabhängig von der Sprache und sogar von Sprecher und Hörer existieren. Verstehen ist möglich, weil der Sprecher und der Hörer dazu gelangen können, denselben Gedanken zu teilen, und dieser Gedanke betrifft zumindest gelegentlich eine von beiden unabhängige Realität.
Die Sprachphilosophie hat in der westlichen Tradition eine merkwürdige Geschichte. Obwohl sie zur Zeit vor allem in den englischsprachigen Ländern im oder nahe dem Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sind die Formen unseres gegenwärtigen Interesses an Sprache und unserer Beschäftigung mit Sprache realtiv neu. Die Sprachphilosophie in der heutigen Bedeutung dieses Wortes beginnt im 19. Jahrhundert mit dem deutschen Mathematiker und Philosophen Gottlob Frege. Philosophen vor ihm verfaßten oft philosophische Werke über die Sprache, aber keiner vertrat eine "Sprachphilosophie" im heutigen Sinne. Selbst solche traditionellen Themen wie "das Universalienproblem" und "der Wahrheitsbegriff" wurden durch die postfregesche Bewegung von Grund auf verändert.
Ich denke, der Grund dafür liegt teilweise darin, dass die meisten Denker es einfach als selbstverständlich betrachteten, dass Wörter Ideen vermitteln und sie sich über Ideen auf Gegenstände bezogen. John Locke beschreibt in seinem Versuch über den menschlichen Verstand die gängige Ansicht (die im Gegensatz zu seiner eigenen steht!) folgendermaßen: "Nun können zwar die Wörter, so wie sie der Mensch verwendet, eigentlich und unmittelbar nur die im Geist des Sprechenden vorhandenen Ideen bezeichnen; in den Gedanken der Menschen werden sie jedoch insgeheim auf zweierlei andere Dinge bezogen. Die Menschen setzen voraus, dass ihre Wörter auch Kennzeichen der Ideen im Geiste anderer sind, mit denen sie sich unterhalten. Denn andernfalls würden sie vergeblich reden und könnten nicht verstanden werden, wenn die Laute, die sie für eine bestimmte Idee verwenden, von dem Hörer auf eine andere Idee bezogen würden. Das hieße zwei Sprachen reden. Gewöhnlich aber halten sich die Menschen nicht mit der Untersuchun auf, ob die Idee, die sie und die andern Teilnehmer einer Unterhaltung im Sinne haben, dieselbe sei; vielmehr halten sie es für ausreichend, dass sie das Wort, wie sie sich einbilden, im Sinne des herrschenden Sprachgebrauchs verwenden; dabei setzen sie voraus, dass die Idee, zu deren Zeichen sie es machen, genau dieselbe sei, welche verständige Leute ihres Landes mit diesem Namen verbinden. Die Menschen wollen nicht, dass man von ihnen denkt, sie sprächen nur von ihren eigenen Einbildungen; man soll von ihnen glauben, sie sprächen von den Dingen, wie sie in Wirklichkeit sind. Deshalb setzen sie oft voraus, dass die Wörter auch die Realität der Dinge vertreten".
Mit Frege gab die philosophische Tradition diese beiden Prinzipien nicht auf, sondern gelangte eher dazu, sie als enorm problematisch anzusehen. Wie funktioniert das? Wie ist es möglich, dass Kommunikation stattfindet? Wie ist es möglich, dass Wörter und Sätze sich auf etwas beziehen? Im 20. Jahrhundert wurde die Sprachphilosophie wichtig für die Philosophie im allgemeinen, sowohl wegen der Bedeutung, die ihr an sich zukommt, als auch wegen ihrer zentralen Bedeutung für andere philosophische Probleme wie den Begriff der Erkenntnis und der Wahrheit.
Wahrheit ist eine Frage der Genauigkeit der Darstellung. Im allgemeinen versuchen Aussagen zu beschreiben, wie die Dinge in der Welt beschaffen sind, die unabhängig von der Aussage existiert, und die Aussage wird wahr oder falsch sein, je nachdem, ob die Dinge in der Welt wirklich so sind, wie die Aussage es behauptet. So sind zum Beispiel die Aussagen, dass Wasserstoffatome ein Elektron haben oder dass die Entfernung zwischen der Erde und der Sonne 93 Millionen Meilen beträgt oder dass mein Hund in der Küche ist, wahr oder falsch, je nachdem, ob die Dinge im Wasserstoffatom, im Sonnensystem und in der häuslichen Hundewirtschaft wirklich so sind, wie es diese Aussagen behaupten. Wahrheit läßt, so gefaßt, Grade zu. Die Aussage über die Sonne ist zum Beispiel nur annähernd wahr.
In einigen Versionen wird dieses Konzept die "Korrespondenztheorie der Wahrheit" genannt. Sie wird oft als Definition von "wahr" folgendermaßen vorgelegt: Eine Aussage ist wahr dann und nur dann, wenn die Aussage mit den Tatsachen übereinstimmt. In den letzten Jahrhunderten gab es zahlreiche Debatten unter den Philosophen vom Fach über die Korrespondenztheorie der Wahrheit. Ein großer Teil dieser Debatte handelt von Spezialproblemen, die es mit den Begriffen der Tatsache und Übereinstimmung zu tun haben. Erklärt der Begriff Übereinstimmung wirklich irgend etwas? Sind Tatsachen wirklich unabhängig von Aussagen? Stimmt jede wahre Aussage wirklich mit einer Tatsache überein? Gibt es zum Beispiel moralische Tatsachen? Und wenn nicht, heißt das, dass es in der Ethik keine wahren Aussagen gibt? Ich vertrete entschiedene Meinungen zu all diesen Fragen, aber da ich hier die Westliche Rationalistische Tradition vorstelle und nicht meine eigenen Ansichten erläutere, werde ich mich auf das Folgende beschränken.
Das Konzept von Wahrheit, wie es sich über die Jahrhunderte entwickelte, enthält zwei getrennte Stränge, und diese zwei Stränge kommen nicht immer zusammen. Manchmal scheint es, als hätten wir zwei verschiedene Auffassungen von Wahrheit. Wahrheit ist eine Obsession der Westlichen Rationalistischen Tradition; diese anscheinende Zweideutigkeit ist also wichtig. Die Zweideutigkeit besteht in der Frage der Wahrheit als Übereinstimmung ("correspondence") und der Wahrheit als Disquotation. Der Korrespondenztheorie zufolge ist die Aussage p wahr dann und nur dann, wenn p mit den Tatsachen übereinstimmt. Zum Beispiel ist die Aussage, dass der Hund in der Küche ist, wahr dann und nur dann, wenn sie mit der Tatsache übereinstimmt, dass der Hund in der Küche ist. Der Disquotationstheorie zufolge ist für jede Aussage s, die eine Proposition p ausdrückt, s wahr dann und nur dann, wenn p. Also ist zum Beispiel die Aussage "der Hund ist in der Küche" wahr dann und nur dann, wenn der Hund in der Küche ist. Das wird "Disquotation" genannt, weil die Anführungszeichen auf der linken Seite von "dann und nur dann" einfach auf der rechten Seite weggelassen werden.
Diese zwei Wahrheitskriterien scheinen nicht immer zu demselben Resultat zu führen. Beim zweiten sieht es so aus, als ob das Wort "wahr" nicht wirklich irgend etwas hinzufügte. Zu sagen, dass es wahr ist, dass der Hund in der Küche ist, ist nur eine andere Art zu sagen, dass der Hund in der Küche ist; es scheint also, dass das Wort "wahr" redundant ist. Aus diesem Grund hat das Disquotationskriterium zur "Redundanztheorie der Wahrheit" angeregt. Beim ersten Kriterium, dem Korrespondenzkriterium, sieht es so aus, als ob es eine wirkliche Beziehung zwischen zwei unabhängig voneinander identifizierten Entitäten gäbe - der Aussage und der Tatsache. Die Schwierigkeit mit dieser Auffassung besteht jedoch darin, dass die zwei Entitäten nicht unabhängig voneinander identifzierbar sind. Man kann die Frage "mit welcher Tatsache stimmt der Satz überein?" nicht beantworten, ohne eine wahre Aussage zu machen. Wenn ich also die Aussage "der Hund ist in der Küche" identifiziert habe und ich dann die Tatsache, dass der Hund in der Küche ist, identifiziert habe, bleibt mir zur Vergleichung der Aussage mit der Tatsache, um zu sehen, ob sie wirklich übereinstimmen, nichts mehr zu tun übrig. Die angebliche Beziehung der Übereinstimmung ist bereits durch die Identifizierung der Tatsache selbst hergestellt wotden.
Gibt es irgendeinen Weg, die Korrespondenztheorie zu erklären, die diese Schwierigkeit überwindet, und gibt es einen Weg, das Spannungsverhältnis zwischen dem Disquotationskriterium und dem Korrespondenzkriterium aufzuheben und die anscheinende 2weideutigkeit in dem Wahrheitsbegriff zu überwinden. Ich denke, ja. Das Wort "fact", und das ist Tatsache, hat sich so aus dem lateinischen "facere" entwickelt, dass es nun das bedeutet, was mit einer wahren Aussage übereinstimmt und wodurch die Aussage wahr ist. Die Korrespondenztheorie - eine Aussage ist wahr dann und nur dann, wenn sie mit einer Tatsache übereinstimmt - ist eine Binsenwahrheit, eine Tautologie, ein analytisches Urteil. Aber die Grammatik der Sprache führt uns dann in die Irre: Weil "Tatsache" ein Nomen ist und Nomen in der Regel Dinge benennen, und weil "übereinstimmt" in der Regel eine Beziehung zwischen Dingen benennt, denken wir, dass es deshalb eine Klasse von komplizierten Objekten: die Tatsachen, geben muß und eine Beziehung, die wahre Aussagen zu diesen komplizierten Objekten aufweisen: Übereinstimmung. Aber dieses Bild funktioniert nicht. Es scheint plausibel für die Aussage, dass der Hund in der Küche ist, aber wie steht es mit der wahren Aussage, dass der Hund nicht in der Küche ist? Oder der wahren Aussage, dass Hunde mit drei Köpfen niemals existiert haben? Mit welchen komplizierten Objekten stimmen sie überein?
Der Fehler besteht darin zu denken, dass Tatsachen eine Klasse von komplizierren Objekten sind und dass wir, um die Wahrheit zu finden, erst das Objekt finden und es dann mit einer Aussage vergleichen müssen, um festzustellen, ob sie wirklich übereinstimmen. Aber so funktioniert die Sprache auf diesem Gebiet nicht. Die Tatsache, dass der Hund nicht in der Küche ist oder die Tatsache, dass Hunde mit drei Köpfen niemals existiert haben, sind ebensosehr Tatsachen wie irgendwelche anderen einfach deshalb, weil die mit ihnen übereinstimmenden Aussagen wahr sind und "Tatsache" definiert ist als alles das, was eine Aussage wahr macht.
Aus diesem Grund, wegen der Definitionsbeziehung zwischen Tatsache und wahrer Aussage, konnte es keine Widersprüchlichkeit zwischen dem Korrespondenzkriterium der Wahrheit und dem Disquotationskriterium geben. Das Disquotationskriterium sagt uns, dass die Aussage, "der Hund ist in der Küche" wahr ist dann und nur dann, wenn der Hund in der Küche ist. Das Korrespondenzkriterium sagt uns, dass die Aussage, dass der Hund in der Küche ist, wahr ist dann und nur dann, wenn sie mit einer Tatsache übereinstimmt. Aber mit welcher Tatsache? Die einzige Tatsache, mit der sie, wenn sie wahr ist, übereinstimmen könnte, ist die Tatsache, dass der Hund in der Küche ist. Aber das ist genau das Resultat, zu dem das Disquotationskriterium führt, denn das ist die von der rechten Seite der Gleichung dargestellte Tatsache: die Aussage, "der Hund ist in der Küche" ist wahr dann und nur dann, wenn der Hund in der Küche ist. Also sind sowohl die Korrespondenztheorie wie auch die Disquotationstheorie wahr, und sie widersprechen sich nicht. Die Korrespondenztheorie ist trivialerweise wahr und führt uns so in die Irre, weil wir denken, dass Übereinstimmung eine sehr allgemeine Beziehung zwischen Sprache und Realität benennt, obwohl sie eigentlich, so mein Vorschlag, nur eine Abkürzung für die enorme Vielfalt aller Arten und Weisen ist, in denen Aussagen präzise darstellen können, wie die Dinge sind. Aussagen sind in der Regel wahr wegen oder aufgrund von Merkmalen der Welt, die unabhängig von der Aussage existieren.
Das Ergebnis dieser Diskussion, soweit sie die Westliche Rationalistische Tradition betrifft, ist folgendes: die Welt existiert zum größten Teil sprachunabhängig, und eine der Funktionen von Sprache besteht darin, darzustellen, wie die Dinge in der Welt beschaffen sind. Ein entscheidend wichtiger Punkt, an dem Realität und Sprache in Kontakt miteinander kommen, wird durch den Wahrheitsbegriff markiert. Aussagen sind im allgemeinen in dem Maße wahr, wie sie irgendein Merkmal der Realität darstellen, das unabhängig von dieser Aussage existiert. Es gibt verschiedene wichtige philosophische Probleme im Zusammenhang mit Übereinstimmung und Disquotation, aber wenn wir auf unsere p's und q's achten, können wir sehen, dass keins dieser Probleme unsere Grundauffassung von Wahrheit als der Genauigkeit der Darstellung bedroht.
Wahrheit ist objektiv. Weil der Inhalt dessen, was gewußt wird, immer eine wahre Proposition ist, und weil Wahrheit im allgemeinen eine Frage der genauen Darstellung einer unabhängig existierenden Realität ist, hängt Wissen nicht ab, noch rührt es her von den subjektiven Einstellungen und Gefühlen eines bestimmten Forschers. Jede Darstellung erfolgt, wie gesagt, aus einer bestimmten Perspektive und unter bestimmten Aspekten und unter anderen nicht. Darstellungen werden außerdem von bestimmten Forschern gemacht, die von all den üblichen Beschränkungen des Vorurteils, der Unwissenheit, Dummheit, Korruptheit und Unehrlichkeit betroffen sind; Darstellungen werden von ihren Urhebern aus allen möglichen Motiven gemacht, einige davon sind löblich, andere verwerflich, einschließlich der Wünsche, reich zu werden, die Unterdrückten zu unterdrücken oder gar einen Lehrstuhl zu ergattern. Aber wenn die vorgetragenen Theorien eine unabhängig existierende Realität präzise beschreiben, dann ist all dies völlig unerheblich. Die Sache ist die, dass die objektive Wahrheit oder Falschheit der aufgestellten Behauptungen völlig unabhängig von den Motiven, der Moral oder sogar des Geschlechts, der Rasse oder der echnischen Zugehörigkeit ihres Urhebers ist.
Es lohnt sich, einen Augenblick innezuhalten, um die Bedeutung dieses Prinzips Für die aktuellen Debatten darzulegen. Eine argumentative Standardstrategie derjenigen, die die Westliche Rationalistische Tradition ablehnen, besteht darin, eine Behauptung, die sie für anstößig halten, in Frage zu stellen, indem sie den Urheber der fraglichen Behauptung in Frage stellen. Von der Behauptung wie von ihrem Urheber heißt es dann, sie seien rassistisch, sexistisch, phono-phallo-logozentrisch und so weiter. Einen Vertreter der traditionellen Auffassung von Rationalität beeindrucken diese Infragestellungen nicht. Sie verfehlen bestenfalls die Sache. Für die Vertreter der Westlichen Rationalistischen Tradition haben diese Arten von Infragestellung Namen. Sie werden gemeinhin argumentum ad hominem und genetic fallacy genannt. Argumentum ad hominem ist ein Argument gegen die Person, die eine Ansicht vertritt, statt gegen die Ansicht selbst, und genetic fallacy ist der Irrtum anzunehmen, dass eine Theorie oder Behauptung, weil sie verwerflicher Herkunft ist, selber diskreditiert sind. Ich hoffe, es ist offensichtlich, warum das jeder, der die Idee objektiver Wahrheit und deshalb objektiven Wissens akzeptiert, für einen Irrtum hält und dass ein argumentum ad hominem kein stichhaltiges Argument ist. Wenn jemand einen Anspruch auf Wahrheit erhebt und diesen Anspruch adäquat untermauern kann, und wenn dieser Anspruch in der Tat wahr ist, dann weiß diese Person wirklich etwas. Der Umstand, dass das ganze Unternehmen von Behaupten und Beweisen möglicherweise von jemandem ausgeführt wurde, der Rassist oder Sexist ist, ist für die Wahrheit der Behauptung schlicht irrelevant. Das ist unter anderem damit gemeint, wenn man sagt, dass Wissen objektiv ist. Es ist weniger offensichtlich, aber noch klar, hoffe ich, warum jeder, der die Möglichkeit objektiver Wahrheit und objektiven Wissens leugnet, diese Arten von Argumenten attraktiv findet. Wenn es so etwas wie objektive Wahrheit nicht gibt, dann haben die Kriterien für die Beurteilung von Behauptungen keine wesentliche Beziehung zu Wahrheit oder Falschheit und können sich ebensogut mit dem Urheber des Arguments befassen, seinen oder ihren Motiven, den Konsequenzen der Aufstellung der Behauptung oder anderen solchen Fragen.
Logik und Rationalität sind formal. In der Westlichen Rationalistischen Tradition nimmt man traditionellerweise zwei Arten von Vernunft an: die theoretische Vernunft, die sich mit dem befaßt, was zu glauben vernünftig ist, und die praktische Vernunft, die sich mit dem befaßt, was zu tun vernünftig ist. Aber es gehört, glaube ich, wesentlich zur westlichen Auffassung von Rationalität, Vernunft, Logik, Evidenz und Beweis, dass diese einem nicht per se sagen, was man glauben oder tun soll. Der westlichen Auffassung zufolge stellt einem die Rationalität eine Reihe von Verfahren, Methoden, Standards und Kanons bereit, die es einem ermöglichen, verschiedene Behauptungen in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Behauptungen zu beurteilen. Für diese Ansicht ist die westliche Auffassung von Logik wesentlich. Logik sagt einem nicht per se, was man glauben soll. Sie sagt einem nur, was der Fall sein muß, vorausgesetzt die Annahmen sind wahr, und folglich was man zu glauben festgelegt ist, vorausgesetzt, dass man diese Annahmen glaubt. Logik und Rationalität liefern Standards für Beweis, Folgerichtigkeit und Vernünftigkeit, aber die Standards operieren nur auf der Grundlage einer vorgegebenen Reihe von Axiomen, Annahmen, Zielen und Zwecken. Rationalität als solche stellt keine inhaltlichen Behauptungen auf.
Im Fall der praktischen Vernunft wird dieses Argument manchmal dadurch erläutert, dass man sagt, beim Argumentieren gehe es immer um Mittel, nicht um Zwecke. Das ist, setzt man die westliche Auffassung voraus, nicht ganz richtig, denn man kann darüber argumentieren, ob die Zwecke gut, angemessen oder rational sind oder nicht, aber nur in der Auseinandersetzung mit anderen Zwecken und anderen Erwägungen wie etwa Widerspruchsfreiheit. Der formale Charakter der Rationalität hat die wichtige Konsequenz, dass Rationalität als solche nicht "widerlegt" werden kann, weil sie keine Behauptungen aufstellt, die zu widerlegen sind.
Aus den aufgeführten fünf Prinzipien ergibt sich zwanglos folgendes: Intellektuelle Standards stehen nicht zur freien Verfügung. Es gibt sowohl objektiv wie intersubjektiv geltende Kriterien intellektueller Leistung und Qualität. Die obigen fünf Prinzipien implizieren auf ziemlich offensichtliche Weise eine Reihe von Kriterien, um intellektuelle Produkte zu beurteilen. Eine wirkliche Welt, eine öffentliche Sprache, um über sie zu reden, und die in der Westlichen Rationalistischen Tradition implizierten Auffassungen von Wahrheit, Wissen und Rationalität vorausgesetzt, wird es eine Reihe von komplexen, aber nicht arbiträren Kriterien geben, um die jeweiligen Verdienste von Aussagen, Theorien, Erklärungen, Interpretationen und anderen Arten von Darstellungen zu beurteilen. Einige dieser Kriterien sind "objektiv" in dem Sinn, dass sie unabhängig sind von den Sinnen und Gefühlen ("sensibilities") der Leute, die diese Kriterien anwenden; andere sind "intersubjektiv" in dem Sinn, dass sie an gemeinsame Eigenschaften der menschlichen Sinneswahrnehmung und Gefühlswelt appellieren. Ein Beispiel für Objektivität in diesem Sinne ist das Kriterium für die Beurteilung der Gültigkeit in der Aussagenlogik. Ein Beispiel für Intersubjektivität ist die Art von Kriterien, an die bei Debatten über rivalisierende geschichtswissenschaftliche Interpretationen des amerikanischen Bürgerkriegs appelliert wird. Es gibt keine klare Trennungslinie zwischen beiden, und in Fächern wie Geschichts- und Literaturwissenschaft, wo die Interpretation entscheidend ist, ist dementsprechend Intersubjektivität für das intellektuelle Unternehmen wesentlich.
Die Geschichte der westlichen Philosophie kennt endlose Debatten über diese Fragen. Meiner eigenen Meinung nach funktioniert zum Beispiel selbst Objektivität nur relativ zu einem gemeinsamen "Hintergrund" kognitiver Fähigkeiten und ist folglich in gewissem Sinne eine Form von Intersubjektivität: Wichtig für die gegenwärtige Diskussion ist jedoch, dass es der Westlichen Rationalistischen Tradition zufolge rationale Standards für die Beurteilung intellektueller Qualität gibt. Mit Ausnahme einiger weniger Gebiete gibt es keinen Algorithmus, der diese Standards bestimmt, und ihre Anwendung erfolgt nicht algorithmisch. Sie sind jedoch gleichwohl weder willkürlich ausgewählt, noch werden sie willkürlich angewendet. Einige Streitfragen mögen nicht entscheidbar sein - aber das bedeutet nicht: anything goes.
 
Einige Angriffe auf die Westliche Rationalistische Tradition
Es gibt wirklich zu viele Arten von Angriffen auf die Westliche Rationalistische Tradition, und ich bin mit vielen davon zu wenig vertraut, so dass ich nur den allerkürzesten Überblick geben kann. Es gibt Dekonstruktivisten wie Derrida, die inspiriert von Nietzsche und den späten Werken Martin Heideggers denken, dass sie die gesamte Westliche Rationalistische Tradition "dekonstruieren" können. Es gibt einige Feministinnen, die denken, dass die Tradition des Rationalismus, des Realismus, der Wahrheit und der Übereinstimmung im wesentlichen eine Art maskulinistischer Kunstgriff zur Unterdrückung ist. Es gibt einige Philosophen, die denken, dass wir Wissenschaft nicht länger als mit einer unabhängig existierenden Realität übereinstimmend betrachten sollten. Wir sollen statt dessen glauben, dass Wissenschaft im besonderen und Sprache im allgemeinen uns nur eine Reihe von Kunstgriffen bieten, um zurechtzukommen. Dieser Ansicht zufolge dient Sprache dem "Zurechtkommen" statt der "Entsprechung" oder "Übereinstimmung". Laut Richard Rorty (Consequences of Pragmatism) gibt deshalb der Pragmatiker "die Idee der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Realität ganz auf und sagt, dass die moderne Wissenschaft es uns nicht ermöglicht zurechtzukommen, weil sie übereinstimmt - sie ermöglicht es uns einfach zurechtzukommen".
Diese Angriffe auf die Westliche Rationalistische Tradition sind in mehrfacher Hinsicht seltsam. Erstens ist diese Tendenz zum größten Teil auf verschiedene Fächer der Geisteswissenschaften beschränkt sowie auf einige sozialwissenschaftliche Fachbereiche und bestimmte Juristische Fakultäten. Die antirationalistische Komponente der zeitgenössischen Szene hat - bis jetzt - sehr wenig Einfluß in der Philosophie, den Natur-, Wirtschafts-, Ingenieurwissenschaften oder der Mathematik ausgeübt. Obwohl einige ihrer Heroen Philosophen sind, hat sie in Wirklichkeit wenig Einfluß in den philosophischen Fachbereichen Amerikas. Man könnte meinen, da die Fragen, um die es geht, ganz wesentlich philosophische sind, dass die Debatten über das Curriculum, die mit dem Wunsch zusammenhängen, die Westliche Rationalistische Tradition zu stürzen, in den philosophischen Instituten toben müßten. Das ist jedoch, soweit ich weiß, nicht der Fall. Fachphilosophen verbringen eine Menge Zeit damit, an den Rändern der Westlichen Rationalistischen Tradition herumzufuhrwerken. Sie sind besessen von Fragen wie: "Was ist die richtige Analyse der Wahrheit?", "Wie sind Wörter auf Objekte in der Welt bezogen?" und "Existieren die von wissenschaftlichen Theorien postulierten nichtbeobachtbaren Entitäten wirklich?" Wie wir anderen auch, neigen sie dazu, den Kern der Westlichen Rationalistischen Tradition als selbstverständlich zu betrachten, selbst wenn sie über Wahrheit, Referenz oder Wissenschaftstheorie streiten. Die Philosophen, die wie Richard Rorty und Jacques Derrida die Ablehnung der Westlichen Rationalistischen Tradition explizit zum Thema machen, üben viel mehr Einfluß in den literaturwissenschaftlichen Fachbereichen aus als in den philosophischen.
Eine zweite und vielleicht rätselhaftere Eigenheit ist die, dass es sehr schwierig ist, irgendwelche klaren, rigorosen und expliziten Argumente gegen die zentralen Bestandteile der Westlichen Rationalistischen Tradition zu finden. Das ist andererseits auch nicht so rätselhaft, wenn man bedenkt, dass ein Teil dessen, was angegriffen wird, das ganze Konzept von "klaren, rigorosen und expliziten Argumenten" ist. Rorty hat die Korrespondenztheorie der Wahrheit angegriffen, und Derrida hat behauptet, dass Bedeutungen nicht entscheidbar seien, aber weder in ihren Werken noch in den Werken anderer Favoriten der postmodernistischen Subkultur wird man viel an rigorosen Argumenten finden, woran man wirklich seinen Vetstand schärfen kann. Irgendwie gibt es das Gefühl, dass die Westliche Rationalistische Tradition abgelöst worden oder obsolet geworden ist, aber tatsächliche Widerlegungsversuche sind selten. Manchmal sagt man uns, dass wir in einer Zeit der Postmoderne leben und also die Zeit der Moderne, die im 17. Jahrhundert begann, hinter uns gelassen haben; aber dieser angebliche Wandel wird oft wie eine Art Wetterwechsel behandelt, etwas, das einfach passiert ist, ohne Argumente oder Beweise zu benötigen. Manchmal sind die, "Argumente" eher so etwas wie Slogans oder Schlachtrufe. Aber die allgemeine Atmosphäre einer vage literarischen Frivolität, von der die vernietzschte Linke durchdrungen ist, wird nicht als Mangel betrachtet. Viele von ihnen glauben, dass dies die Art ist, wie das intellektuelle Leben geführt wetden sollte.
Thomas Kuhn und Richard Rorty sind zwei der Autoren, die von denjenigen, die die Westliche Rationalistische Tradition ablehnen, am häufgsten zitiert werden. Ich werde ein wenig abschweifen, um kurz etwas über sie zu sagen. Kuhn soll in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen gezeigt haben, dass der Anspruch der Wissenschaft, eine unabhängig existierende Realität zu beschreiben, falsch ist, und dass die Wissenschaftler in Wirklichkeit eher von Massenpsychologie als von Rationalität geleitet werden und sie in periodischen wissenschaftlichen Revolutionen in hellen scharen von einem "Paradigma" zum anderen wandern. So etwas wie die wirkliche Welt, die die Wissenschaft beschreiben soll, gibt es nicht, vielmehr schafft jedes Paradigma seine eigene Welt, so dass beispielsweise, wie Kuhn sagt, "die Wissenschaftler nach einer Revolution in einer anderen Welt arbeiten".
Ich glaube, dass diese Interpretation eher eine Karikatur Kuhns darstellt. Aber selbst wenn es eine korrekte Interpretation wäre, würde dies Argument nicht zeigen, dass es keine von unseren Darstellungen unabhängige Welt gibt noch dass die Wissenschaft nicht eine Serie systematischer und in unterschiedlichem Maße erfolgreicher Versuche darstellt, eine Beschreibung dieser Realität zu geben. Selbst wenn wir die naivste Interpretation von Kuhns Darstellung wissenschaftlicher Revolutionen akzeptieren, hat dies keineswegs derartig spektakuläre ontologische Konsequenzen. Im Gegenteil, selbst die pessimistischste Fassung der Wissenschaftsgeschichte ist vollkommen vereinbar mit der Ansicht, dass es eine unabhängig existierende wirkliche Welt gibt und es das Ziel der Wissenschaft ist, sie zu beschreiben.
Bei Rorty gibt es viele Diskussionen über Wahrheit und Übereinstimmung, und ich will gar nicht erst versuchen, ihnen hier gerecht zu werden, sondern werde nur ein oder zwei entscheidende Aspekte herausgreifen. Er sagt wiederholt, beispielsweise in Objectivity, Relativism and Truth, dass "wahr" nur ein Ausdruck der Belobigung ist, den wir benutzen, um diejenigen Annahmen zu loben, von denen wir denken, dass es gut ist, sie zu glauben, und dass Wahrheit gemacht und nicht entdeckt wird. Die Schwierigkeit mit der ersten dieser Thesen besteht darin, dass es im gewöhnlichen Sinn des Wortes eine Menge Dinge gibt, von denen man aus dem einen oder anderen Grund annimmt, dass es gut wäre, sie zu glauben, die aber nicht wahr sind, und eine Menge Dinge, die wahr sind, aber es wäre besser, wenn sie nicht allgemein geglaubt würden. Ich halte es zum Beispiel für gut, dass Mütter das Beste von ihren Kindern glauben, auch wenn solcher Glaube sich oft als falsch herausstellt. Ebenso ist der Fortbestand religiöser Glaubensbekenntnisse insgesamt eine gute Sache, obwohl die meisten wahrscheinlich falsch sind. Rortys Behauptung laboriert an der üblichen Schwierigkeit solcher philosophischer Reduktionen: Sie ist entweder zirkulär oder offensichtlich falsch. Das Kriterium für gut kann einerseits als Wahrheit oder Übereinstimmung mit der Realität definiert werden; in diesem Fall ist die Analyse zirkulär. Andererseits gibt es, wenn man "Wahrheit" nicht neu definiert, eine Menge Gegenbeispiele, eine Menge Sätze, die zu, glauben aus dem einen oder anderen Grund gut für die Leute ist, die aber im gewöhnlichen Sinn des Wortes nicht wahr sind; und es gibt Sätze, die zu glauben aus dem einen oder anderen Grund schlecht wäre, die aber gleichwohl wahr sind.
Rortys Behauptung, dass Wahrheit gemacht und nicht entdeckt wird, ist zweideutig. Da Wahrheit immer in der Form wahrer Aussagen und wahrer Theorien auftritt, müssen wahre Aussagen und wahre Theorien in der Tat von Menschen gemacht und formuliert werden. Aber aus dieser Tatsache folgt nicht, dass es keine unabhängig existierende Realität gibt, mit der ihre Aussagen und Theorien übereinstimmen. In einer Hinsicht wird Wahrheit also gemacht - das heißt wahre Sätze werden gemacht. Aber in einer anderen Hinsicht, und mit jener vereinbar, wird Wahrheit entdeckt. Was man entdeckt, ist das, was die Aussagen wahr (oder falsch, je nachdem) macht. Kurzum, wahre Aussagen werden gemacht, aber die Wahrheit von Aussagen wird nicht gemacht, sie wird entdeckt. Rortys Argument ist insofern typisch für diese Diskussionen, als mehr angedeutet als tatsächlich argumentativ vertreten wird. Was behauptet wird, ist wohl, dass wahre Aussagen wie alle Aussagen von Menschen gemacht werden. Was angedeutet wird, ist weitaus schwerwiegender: Es gibt keine Tatsachen in der wirklichen Welt, die unsere Sätze wahr machen, und vielleicht ist die "wirkliche Welt" nur unsere Schöpfung.
 
Der Status der Westlichen Rationalistischen Tradition
Ich habe keine Angriffe auf die Westliche Rationalistische Tradition gefunden - nicht bei Rorty oder Kuhn, viel weniger noch bei Derrida oder Nietzsche -, die mir in irgendeiner Weise überzeugend scheinen oder gar an einem der von mir formulierten Grundprinzipien Schaden anrichten. Aber es stellt sich natürlich die Frage: Kann man irgend etwas zur Verteidigung der Westlichen Rationalistischen Tradition vorbringen? Gibt es irgendeinen Beweis oder ein Argument dafür, dass dies eine mögliche richtige Art zu denken und zu handeln ist? Alternative Entwürfe sind ohne Zweifel möglich, warum sollte man also diesen akzeptieren?
Es ist ein wenig verwirrend, wenn ein Argument oder ein Beweis für die Gültigkeit einer ganzen Wahrnehmungs- und Gefühlsweise und eines Voraussetzungsrahmens verlangt wird, innerhalb deren das stattfindet, was wir als einen Beweis und ein Argument ansehen. Die Situation ist dem in den sechziger Jahren häufigen Vorkommnis nicht unähnlich, bei dem man aufgefordert wurde, Rationalität zu rechtfertigen: "Was ist ihr Argument für Rationalität?" Die Idee eines Arguments setzt bereits Standards der Gültigkeit und damit Rationalität voraus. Etwas gilt als Argument nur unter der Voraussetzung, dass es den Kanons der Rationalität unterliegt. Um denselben Gedanken anders zu formulieren: Man kann Rationalität nicht rechtfertigen oder begründen, weil Rationalität als solche keinen Inhalt hat so wie bestimmte Behauptungen einen Inhalt haben, die im Rahmen der Rationalität aufgestellt werden. Man kann vielleicht zeigen, dass gewisse Kanons der Rationalität sich selbst aufheben oder widersprüchlich sind, aber es ist unmöglich, Rationalität zu "beweisen".
Es könnte scheinen, als verhielte es sich im Fall des Realismus anders. Zweifellos, könnte man sagen, ist die Behauptung, dass Realität unabhängig von Darstellungen durch die Menschen existiert, eine Tatsachenbehauptung und kann als solche wahr oder falsch sein. Ich möchte darauf hinweisen, dass alle sechs Prinzipien der Westlichen Rationalistischen Tradition bei der konkreten Betätigung unserer sprachlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Praktiken ganz anders funktionieren als gewöhnliche empirische oder wissenschaftliche Thesen. Da der Realismus die Grundlage des ganzen Systems ist, werde ich ein paar Worte darüber sagen. Ich habe die Westliche Rationalistische Tradition so dargestellt, als ob sie aus einer Reihe theoretischer Prinzipien bestünde, als ob sie einfach eine Theorie wäre, die wir neben mehreren anderen vertreten könnten. Diejenigen unter uns, die in unserer intellektuellen Tradition erzogen wurden, finden diese Art der Darstellung fast unvermeidlich, weil unser Modell von Wissen, wie ich oben bemerkte, auf der Präsentierung wohldefinierter Thesen in systematischen theoretischen Strukturen beruht. Aber damit wir überhaupt Theorien bilden können, brauchen wir eine Reihe von Hintergrundannahmen, die jeder Theoriebildung vorausgehen. Für diejenigen unter uns, die in unserer Zivilisation erzogen wurden, insbesondere den wissenschaftlichen Bereichen unserer Zivilisation, fungieren die Prinzipien, die ich als die der Westlichen Rationalistischen Tradition vorgestellt habe, nicht als eine Tbeorie. Sie fungieren vielmehr als Teil des für selbstverständlich gehaltenen Hintergrunds unserer Praktiken. Die Bedingungen der Verständlichkeit unserer - sprachlichen und anderen - Praktiken können nicht selber innerhalb dieser Praktiken als Wahrheiten nachgewiesen werden. Anzunehmen, dass dies möglich sei, war der endemische Fehler der Letzt-Begründungsmetaphysik.
Das einzige, was man zur "Verteidigung" des Realismus vorbringen kann, ist, dass er die Voraussetzungen unserer sprachlichen und anderen Praktiken darstellt. Man kann nicht, ohne sich zu widersprechen, den Realismus leugnen und zugleich seinen gewöhnlichen Alltagspraktiken nachgehen, weil der Realismus die Bedingung der normalen Verständlichkeit dieser Praktiken ist. Man kann sich dies vor Augen führen, indem man über irgendeine Art von Alltagskommunikation nachdenkt. Nehmen wir zum Beispiel an, ich rufe meinen Automechaniker an, um herauszufnden, ob der Vergaser repariert ist; oder ich rufe den Arzt an, um die Ergebnisse meiner letzten ärztlichen Untersuchung zu erfahren. Nehmen wir nun an, ich habe einen dekonstruktivistischen Automechaniker erwischt, und er versucht mir zu erklären, dass ein Vergaser sowieso nur ein Text ist und dass es nichts gibt, worüber zu reden wäre außer der Textualität des Textes. Oder nehmen wir an, ich habe einen postmodernistischen Arzt erwischt, der mir erklärt, dass Krankheit wesentlich ein metaphorisches Konstrukt ist. Was man auch sonst noch über diese Situationen sagen kann, eines ist klar: die Kommunikation ist zusammengebrochen. Die normalen Voraussetzungen hinter unserer praktischen Alltagskommunikation und a fortiori hinter unserer theoretischen Kommunikation erfordern die Voraussetzung des vorherigen Vorhandenseins einer Realität für ihre normale Verständlichkeit. Gestehen Sie mir die Annahme zu, dass diese Arten von Kommunikation zwischen Menschen auch nur möglich sind, dann werden Sie sehen, dass Sie die Voraussetzung einer unabhängig existierenden Realität brauchen. Eine öffentliche Sprache setzt eine öffentliche Welt voraus.

Realismus funktioniert nicht als eine These, Hypothese oder Voraussetzung. Er ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit einer bestimmten Reihe von Praktiken, insbesondere sprachlicher Praktiken. Die Herausforderung für diejenigen, die den Realismus ablehnen möchten, besteht also darin zu versuchen, die Verständlichkeit unserer Praktiken im Falle dieser Ablehnung zu erklären. Philosophen, die diese Fragen sehr ernst nahmen und den Realismus ablehnten, haben in der Vergangenheit tatsäehlich versucht, das zu tun. George Berkeley zum Beispiel versucht zu erklären, wie es möglich ist, dass wir miteinander kommunizieren können angesichts der Tatsache, dass es seiner Ansicht nach keine unabhängig existierenden materiellen Objekte gibt, sondern nur Ideen im jeweiligen Bewußtsein. Seine Antwort war, dass Gott eingreift, um die Möglichkeit menschlicher Kommunikation zu gewährleisten. Ein interessanter Punkt bei den Theoretikern, die gegenwärtig behaupten, gezeigt zu haben, dass die Realität ein soziales Konstrukt ist oder dass es keine unabhängig existierende Realität gibt oder dass alles in Wirklichkeit ein Text ist, ist der, dass sie eine der Bedingungen der Verständlichkeit unserer gewöhnlichen Praktiken geleugnet haben, ohne eine alternative Erklärung dieser Verständlichkeit zu liefern.

Sonntag, 25. Februar 2018

DGS 1910 - 2010: Soziologie degeneriert zur Anti-Wissenschaft!

Die vielbeschworene multiparadigmatische Struktur der Soziologie verkörpert in Wirklichkeit eine dogmatische Pluralismus-Ideologie, die nicht mehr zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang unterscheidet.

Die relativistische Postmoderne in ihrer absurdesten Form!

SozialREALISTISCH fing die Soziologie an, um dann in den letzten Jahrzehnten mit der Postmoderne sozialKONSTRUKTIVISTISCH und relativistisch zu degenerieren.

Zuvor war sie durch die Gemeinschaftserfahrung mit der Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus traumatisiert worden und konnte, so geschwächt, nicht wieder überzeugend an die hoffnungsvollen Anfänge anknüpfen.

Der methodologische Individualismus Weber’s ist fast ausnahmslos zu einem methodologischen Dogma der sich wissenschaftlich versuchenden Hochschul-Soziologie geworden.
Er kann die sozialen Strukturen und ihre Wirkungen, die VOR den Interaktionen existieren und sie verursachen, trotz intellektualistischer Verrenkungen selbstverständlich nicht ERKLÄREN.

Ferdinand Tönnies zur Eröffnung des ersten Soziologentags der DGS 1910:

„Wir wollen also als Soziologen uns nur beschäftigen mit dem, was ist, und nicht mit dem was nachirgendwelcher Ansicht, aus irgendwelchen Gründen, sein soll. Unser nächstes OBJEKT ist die gegenwärtige WIRKLICHKEIT des sozialen Lebens in ihrer unausmeßbaren Mannigfaltigkeit; von ihr aus führt der Blick notwendig zurück in die Vergangenheit, bis zu den Anfängen und Keimen der noch bestehenden wie der untergegangenen Institutionen und Ideenwelten; tastet der Blick voraus in die Zukunft, aber nicht um sie zu gestalten, um ihr etwas vorzuschreiben, sondern lediglich als Prognose, um die wahrscheinliche fernere Entwicklung bestehender Zustände , Ordnungen, Anschauungen, nach Möglichkeit vorauszubestimmen, wobei dann die etwa vorauszusehende Rückwirkung solcher ERKENNTNIS auf die Handlungen der Menschen, auch auf unsere eigenen Handlungen, einer der mitwirkenden Faktoren ist, der in die Rechnung einzusetzen ist und die PROGNOSE selber modifizieren kann.“  (Rammstedt (Hg.) 1988: 281)


Hier ging es noch um die Forschung nach ERKLÄRUNGEN sozialer Prozesse auf der Basis sozialer Naturgesetze (wie soll ich sonst Prognosen erstellen können?)!

Genau das ist das Ziel der von mir skizzierten sozialrealistisch-wissenschaftlichen Soziologie des Unbewussten, deren fundamentale, theoretische Kategorie „ Macht-Kommunikation“ heißt (http://bds-soz.de/BDS/PDF/Soziologieheute/2017/4-2017/SOZIOLOGIEHEUTE_August2017_Schwartz.pdf).

Die Gestaltung der Strukturen einer Gesellschaft ist eine Frage der politischen ANWENDUNG der wissenschaftlich erforschten sozialen Naturgesetze auf der Basis praktisch realisierter Macht.

Peter Ostmann kommt in Anlehnung an Kaube (FAZ vom 22.10.2010) zum Schluss:

„Es kann vor diesem Hintergrund (Fragen der ‚Substanzialität beiseite zu lassen), dass Kaubes Bericht zum Jubiläumskongress 2010 ohne sichtbare Wirkungen an der Soziologie vorbeigegangen ist. Und hätte Tönnies hier die Gründungsrede des Jahres 1910 wiederholen …. können, so hätte er vermutlich ein zustimmendes Kopfnicken einiger der Anwesenden geerntet, doch nur auf deren Weg zurück ‚an die Arbeit‘, zur nächsten Sitzung, zur nächsten Kooperationsanbahnung, zum nächsten Medientermin. Deren Notwendigkeit im Dienste der Fortschreibung der Erfolgsgeschichte der Institutionalisierung der Soziologie steht nicht in Frage. Diese Erfolgsgeschichte ließe allerdings, so wie die Dinge liegen, nachweislich die SCHIERE BEDEUTUNGSLOSIGKEIT DER FRAGE NACH DEN ERKENNTNISVORAUSSETZUNGEN DES FACHS (Herv. G.Sch.) angesichts seiner ‚multiparadigmatischen‘ Funktionalität, letztlich sogar dann ohne Weiteres sich fortschreiben, WENN KEINE SOZIOLOGIE MEHR EXISTIERTE (Herv. G.Sch.)- solange es nur weiter ‚Soziologie‘ gäbe. Ein Befund, DER VIELLEICHT EIN WENIG IRRITIEREND IST (Herv. G.Sch.).“ (Rammstedt Hg. 2015: 89)


Irritiert werden kann nur eine Disziplin, die sich nicht hinter geschlossenen emotional-ideologischen Mauern verbarrikadiert, lieber Peter Ostmann.

Eine dogmatische, disziplinlose Disziplin ohne Identität implodiert und/oder ihr unwissenschaftlicher multiparadigmatischer, relativistischer Unfug wird durch ein Paradigma, das diese Bezeichnung in einem wissenschaftlichen Rahmen verdient, abgelöst.

Eine revolutionäre Kernsanierung des Fachs ist notwendig, um an die vielversprechenden Anfänge der Soziologie wieder anzuknüpfen und die dringend notwendige strukturelle Verantwortung für soziale Prozesse in einer Gesellschaft auf der Basis wissenschaftlicher begriffener Naturgesetze zu ermöglichen. 


Eine Richtung, die in Anlehnung an die Grundgedanken und den Geist Durkheim's HEUTE möglich und sinnvoll wäre, deute ich in meiner Skizze einer sozialrealistischen Soziologie des Unbewussten an.  

Sonntag, 18. Februar 2018

Einstein, Spinoza und der "freie Wille"!


Der menschliche Wille unterliegt den Naturgesetzen wie die gesamte Natur!

Einstein, einer der größten bisherigen Entdecker von Naturgesetzen (Relativitätstheorie/Quantenmechanik) bewunderte den Rationalisten und Pantheisten Spinoza (17. Jahrhundert).

Der "freie Wille" ist für sie eine größenwahnsinnige Illusion des Menschen, die mittlerweile sogar wissenschaftlich als objektiv falsch bestätigt wird, aber immer noch im Westen emotional-ideologisch als liberalistisch-freiheitsideologische Selbstverständlichkeit dominiert!

Why Einstein Admires Spinoza
From a letter to Dr. Dagobert Runes, Sept. 8, 1932, Einstein Archive, reel 33-286, quoted in Jammer, pp. 44 - 45
When asked to write short essay on "the ethical significance of Spinoza's philosophy," Einstein replied:

"I do not have the professional knowledge to write a scholarly article about Spinoza. But what I think about this man I can express in a few words. Spinoza was the first to apply with strict consistency the idea of an all-pervasive determinism to human thought, feeling, and action. In my opinion, his point of view has not gained general acceptance by all those striving for clarity and logical rigor only because it requires not only consistency of thought, but also unusual integrity, magnamity, and — modesty."

Spinoza's ONTOLOGISCHE Theorie der Macht und seine Theorie der Affekte bilden eine philosophische Grundlage für die von mir skizzierte sozialrealistisch-wissenschaftliche Soziologie des Unbewussten!

Mittwoch, 14. Februar 2018

Chomsky and postmodernism!

Funny, 
a libertarian socialist and anarchist with his ridiculous socialconstructivist and childish relation to the phenomenon of "power" in society attacks postmodern reduction to power instead of science and truth. 
He himself is like the postmodernists lightyears away from a REALISTIC SCIENCE of sociology, which does not exist, but could examine social processes as normally induced by power (physically and psychologically), which is necessarily connected with communication in any society like space and time in the physical reality.
Noam Chomsky Explains What’s Wrong with Postmodern Philosophy & French Intellectuals, and How They End Up Supporting Oppressive Power Structures ...

Dienstag, 13. Februar 2018

Die Soziologie der Fettleibigkeit!

Ein Kabarettist demonstriert, was Soziologie jenseits der sozialkonstruktivistischen Pippi-Langstrumpf-Soziologie an den Hochschulen leisten könnte!

Von der liberalistischen Freiheitsideologie hin zur sozialrealistisch-wissenschaftlichen Soziologie des Unbewussten!

Strukturen verursachen Verhaltensverteilungen!

"Das Problem ließe sich intelligent lösen, wenn wir die alltägliche Verführung angingen. Warum gibt es in fast jeder deutschen Schule einen Cola-Automaten oder einen Kiosk in der Nähe, wenn die überzuckerten Getränke einen Grundstein für Übergewicht legen? Damit die Schüler etwas zu tun haben, wenn mal wieder Sport ausfällt? In England sind die Zuckerspender in Schulen verboten. Und wenn Engländer schon mal etwas Sinnvolles tun, sollten wir sie nicht allein lassen.

Warum gibt es keine Lebensmittelampel, keine klare Empfehlung, was eine vernünftige Mahlzeit von Chips unterscheidet? Es bräuchte auch keine Werbung mehr für Junkfood und Zuckerbomben. Wir haben doch auch längst eingesehen, dass man Kindern nicht Zigaretten und Spirituosen anbieten sollte. Das wirkt. Was uns dringend fehlt, ist ein besseres Wort für "kalorienabhängig": Junkfood-Junkies? Sugar-Babes? Colateralgeschädigte? Der Ideenwettbewerb ist eröffnet!"

Mit einfachen Maßnahmen ließe sich der Fettleibigkeit Herr werden
SPEKTRUM.DE

Sonntag, 11. Februar 2018

Der Sozialrealismus Durkheim's


„In general, however, the criticisms of Durkheim’s social realism did no more than repeat the observations of Tarde.


......
The general mental charasteristics studied by psychology were universal and thus could not explain any particular social configuration. It was society that informs our minds and wills in such a way as to put them in harmony with the institutions which express them. It is from here, in consequence, that sociology must begin.“ (Lukes 1973: 498/499)

Weil Durkheim trotz seiner sozialrealistischen Methodologie, die nicht mit einem methodologischen Individualismus vereinbar war, an vielen Stellen doch wieder psychologisch argumentierte, schien er sich in Widersprüche zu verwickeln.

Eine Ursache dafür war, dass er Gesellschaft und das von ihm sogenannte „kollektive Bewusstsein“ nicht konsequent als objektive, immaterielle Realität und Wirklichkeit offensiv propagiert hat, die Verhalten, genauer Verhaltensverteilungen, VERURSACHEN.

Heute, hundert Jahre später, ist es möglich, nach der Entwicklung der Physik, des Behaviorismus, der Karriere des Unbewussten in der Psychotherapie und den Kognitionswissenschaften, den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus usw. abstrakte Realitäten als notwendige Bestandteile wissenschaftlicher Erklärungen zu begreifen.

Auch die Mechanismen, diese Verhaltensverteilungen prägen, sind heute wissenschaftlich (z.B. neurobiologisch und kognitionswissenschaftlich) nachvollziehbar (Symbole, Metaphern, Bilder, Archetypen).
Durkheim hat das Thema "Symbole" schon ausführlich in dieser Hinsicht thematisiert.

Obwohl die Naturwissenschaften immer noch weitgehend materialistisch geprägt sind, bringt David Deutsch das Wesen wissenschaftlicher Erklärungen auf den Punkt:

„Reductionism and holism are both mistakes. In reality, explanations do not form a hierarchy with the lowest level being the most fundamental. Rather, explanations at any level of emergence can be fundamental. Abstract entities are real, and can play a role in causing physical phenomena. Causation is itself an abstraction.“ (Deutsch 2011: 124)