Systemarchetypen
Der wissenschaftliche Abgrund zwischen der erfolgreichen
systemischen Probier-Praxis und dem wortgewaltigen, elitären Soziotainment
systemtheoretischer Sozialphilosophie.
Wissenschaft
Ein anderer Affe als das soziale, symbolisch gesteuerte Tier
„Mensch“ ist in der Lage, die Bibel zu schreiben, wenn er zufällig Buchstaben
auswählt und unendlich viel Zeit hat.
Er hat es aber bisher noch nicht „geschafft“, jüdische
Kinder zu vergasen, Atombomben zu bauen und abzuwerfen und die Meere mit Plastikmüll
evolutionär zu bereichern.
Das unterscheidet ihn vom Affen „Mensch“ und hier fängt eine
sozialrealistisch-wissenschaftliche Soziologie an, die diese sozialen Prozesse
erklären will, soll und kann, jenseits moralistisch-sozialkonstruktivistischer
Wunsch-Phantastereien bzw. der emotional-ideologisch motivierten Perversion von
statistischen Ausnahmen zu statistisch-normalem Verhalten, um das es in der
Soziologie geht.
Der Physiker David Deutsch, ein platonischer Realist, betont
die Einheit der Natur und hat das Wesen der wissenschaftlichen Prozesse seit
Beginn der Aufklärung herausgearbeitet, die den revolutionären, gewaltigen Zuwachs
an Wissen eingeleitet hat.
Die Soziologie befindet sich damit verglichen noch auf einem
pubertären, vorwissenschaftlichen Niveau, das die Hilflosigkeit gegenüber den
katastrophalen, sozialen Prozessen im Umgang mit dem rasanten technologischen
Fortschritt begründet.
Wie aus der Naturphilosophie die Naturwissenschaften
entsprungen sind und sich emergent verselbständigt haben, steht dieser Schritt
von der Sozialphilosophie zur Sozialwissenschaft (insbesondere Soziologie), die
die Bezeichnung „Wissenschaft“ verdient, noch bevor.
Das wichtigste Element, das Wissenschaft ausmacht, sind gute
ERKLÄRUNGEN vor dem Hintergrund überzeugender Theorien, die rational-intuitiv (Kurt
Gödel/Unvollständigkeitstheoreme) entwickelt werden:
„For most of the history of our species, we had almost no
success in creating such knowledge. Where does it come from? Empiricism said
that we derive it from sensory experience. This is false. The real source of
our theories is conjecture, and the real source of our knowledge is conjecture
alternating with criticism.
...
The role of experiment and observation is to chose between
existing theories, not to be source of new ones. We interpret experiences
through explanatory theories, but true explanations are not obvious.
Fallabilism entails not looking to authorities but instead acknowledging that
we may always be mistaken, and trying to correct errors. We do so by seeking
good explanations- explanations that are hard to vary in the sense that
changing the details would ruin the explanation.“ (Deutsch 2011: 32)
Systemische Probier-Spiele
Auf der anderen Seite haben sich seit Beginn der Aufklärung
eine Demokratisierung des Denkens und eine dementsprechende Änderung des durchschnittlichen
Abstraktionsniveaus ergeben.
Der Rationalismus (Descartes, Spinoza, Leibniz) hat sich mit
demokratisch-empirischer Kontrolle auf die Wissenschaft verlagert und durch die
Orientierung an theoretisch-abstrakt fundierten Erklärungen jenseits von
Autoritätsgläubigkeit gewaltige Fortschritte erzielt.
Dass denkfähige, systemisch arbeitende Praktiker noch Zugang
zu dieser abstrakten Dimension ihres Hintergrundes haben, zeigt ein Gedanke von
Donella H. Meadows:
„I don’t deal with the most abstract theories and am
interested in analysis only when i can see how it helps solve real problems.
When the abstract end of systems theory does that, which I believe it will some
day, another book will have to be written.“ (Meadows 2008: IX)
Den deutschen Systemtheoretiker Luhmann sucht man bei der international
etablierten systemischen Praxis vergebens, er wird nicht einmal im
Literaturverzeichnis erwähnt.
Heuristisch können seine Arbeiten allerdings sehr wohl
anregend sein für eine sozialrealistisch-wissenschaftliche Soziologie, wenn sie
vom sozialkonstruktivistischen Ballast befreit und ontologisch-kausal im Sinne
des von mir angedeuteten „methodologischen Strukturalismus“ wahrscheinlichkeitstheoretisch
umformuliert werden. Am Beispiel der „Autopoiese“ könnte das prominent demonstriert
werden.
Meadows arbeitet wie alle erfolgreichen systemischen
Praktiker mit der intuitiven Wahrnehmung der Wirkung von System-Strukturen auf
das Verhalten der beteiligten Individuen. Ihr Erfolg ist persönlichkeits- und
nicht theoretisch-wissenschaftlich-bedingt.
Ihre Definition der Strukturen, die sie Archetypen nennt,
ist erstaunlicherweise identisch mit der von mir verwendeten Fassung von
relational entstehenden, sich ontologisch verselbständigenden Strukturen:
„Common system structures that produce characteristic patterns
of behavior“ (Meadows 2008: 187)
Der Begriff „Systemarchetyp“ stammt vom Guru der
systemischen Organisationsarbeit Peter M. Senge: „Systemarchetyp ist ein vom US-Amerikaner Peter M. Senge kreierter Begriff zur systemischen Beschreibung und Darstellung von generischen Strukturen häufig beobachtbarer Verhaltensmuster von Menschen.“ (wikipedia)
Es geht ihm also um die abstrakten Verhaltensmuster
der Individuen, die er damit beschreibt und NICHT um die Erklärung dieser
Verhaltensmuster durch eine sich verselbständigende Struktur, die eine
wissenschaftliche Theorie voraussetzen würde. Der Blick bleibt systemisch-individualistisch,
wie üblich innerhalb des materialistisch-interaktionistischen Paradigmas.
So beschreibt Meadows ein System wie folgt:
„A set of
elements or parts that is coherently organized and interconnected in a pattern
or structure that produces a characterstic set of behaviors, often classified
as its ‚function’ or ‚purpose’.“ (Meadows 2008: 188)
Eine immaterielle, physisch wirksame, REALE
Struktur, die die Verhaltensverteilung in Systemen verursacht, kommt im
Programm nicht vor, da die Beteiligten primär als rationale operierende Akteure
konzipiert werden, die jederzeit aktiv das System und die Strukturen gestalten.
In den Naturwissenschaften taucht das Problem abstrakter
Strukturen genauso auf, wenn es um die wissenschaftlich immer angestrebte Vereinheitlichung
von separaten Theorien geht.
David Deutsch, auch Autor der „Fabric of
Reality“, bietet mit seiner „Konstruktor-Theorie“ eine gewöhnungsbedürftige und
nicht leicht nachvollziehbare, aber letztlich logisch und ontologisch
schlüssige Informationstheorie an, die ein neues Fundament für die Integration
der Quantenmechanik, der Evolutionstheorie und der Quanten-Informatik bietet.
Zu den Themen „Emergenz und Abstraktion“
schreibt er scharfsinnig:
„Reductionism and holism are both mistakes. In reality,
explanations do not form a hierarchy with the lowest level being the most
fundamental. Rather, explanations at any level of emergence can be fundamental.
Abstract entities are real, and can play a role in causing physical phenomena.
Causation is itself an abstraction.“ (Deutsch 2011: 124)
Der defizitäre Umgang mit abstrakten Konzepten
und Strukturen blockiert in der Soziologie den sozialrealistischen Zugang zum
Verhältnis von Strukturen und den beteiligten Individuen.
Auch Kurt Gödel, der geniale Logiker und Mathematiker
(Unvollständigkeitstheoreme), hat den dominierenden Materialismus als Irrweg
der Wissenschaft angesehen.
Eigentlich naheliegend, wenn man bedenkt, dass man einen
Gedanken nicht anfassen kann, er aber unbestreitbar real ist und eine
physisch-materielle, messbare Wirkung haben kann.
Der an anderer Stelle von mir angedeutete
„methodologische Strukturalismus“ berücksichtigt die relationale Dimension der
Struktur, die emergente Eigenschaften entwickelt, die NICHT auf die statistisch-normalen
Aktionen der Individuen reduzierbar sind.
Er schließt sich letztendlich an den postmodern
vernachlässigten und/oder methodologisch individualisierten Geist Durkheims an,
nicht zu verwechseln mit der philologisch-historischen Buchstaben-Exegese, die
eine fruchtbare Weiterentwicklung seiner Grundgedanken blockiert.
„Laut Durkheim ist ein sozialer Tatbestand „(...) jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die
die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder
auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren
individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“[1]“....
„Der Zwang wird aber lediglich unbewusst
wahrgenommen und erst dann Gegenstand von Reflexion,
wenn man sich außerhalb der durch den sozialen Tatbestand gesteckten Grenzen
befindet.“ (wikipedia)
Durkheim spricht dabei bekanntermaßen von einem „kollektiven
Bewusstsein“.
Von hieraus ist der Weg nicht mehr weit zu der
von mir angedeuteten „Soziologie des Unbewussten“, die formale Strukturen als
physisch realisierte Produkte menschlichen Denkens (Phänomen/Wirklichkeit) und
seines unbewussten Hintergrundes (Realität) begreift.
Archetypen
Vor Durkheim wurde das Unbewusste implizit und
explizit von Philosophen wie z.B. Plato, Spinoza (Theorie der Affekte),
Schopenhauer (Wille), Nietzsche (Macht), Hegel (Weltgeist) prominent behandelt.
Während seiner Zeit wurde es vor allen Dingen von
Le Bon („Psychologie der Massen“) und von E. v. Hartmann („Philosophie des
Unbewussten“) thematisiert.
Nach ihm haben u.a. Freud, C.G. Jung, Pawlow,
die Gestaltpsychologie, Goebbels und der Nationalsozialismus, die
Werbewirtschaft/Propaganda und aktuell die Kognitionswissenschaften das
Unbewusste weiter erforscht und/oder benutzt.
Der Marlboro-Cowboy reitet Menschen ebenso zu
Tode vor dem Hintergrund einer perversen Freiheitsideologie wie Goebbels sie bis
zum „Wollt ihr den totalen Krieg?“ verrecken und aus Überzeugung „Ja!“ schreien
ließ.
„Symbole
transportieren implizite, kulturell gelernte Bedeutungen besonders effizient.
Symbole können unmittelbar Verhaltensprogramme im Autopiloten aktivieren.“
(Scheier/Held 2008: 75)
Nicht die
individuell-bewusste Motivation steuert das Verhalten, sondern wie das
„Züricher Modell der sozialen Motivation“ von Norbert Bischof es formuliert,
grundlegende, implizit-unbewusst auslösende Motive wie „Sicherheit“,
„Erregung/Abenteuer“ oder „Unabhängigkeit“. (s. Scheier/Held 2008)
Dass das Bewusstsein für die Erklärung des sozialen Verhaltens
nur sehr bedingt, wenn überhaupt, eine Rolle spielt, beweist nicht nur das
berühmte Libet-Experiment, sondern auch weitergehende psychologische
Forschungen, die davon ausgehen, dass es primär ein Gefühl ist (awareness), das
dazu dient, Handlungen zu rationalisieren, also sie nachträglich zu begründen
und persönlich zuzuordnen (Wegener 2002).
Das Bewusstsein ist die emergente Spitz des Eisbergs des
individuellen (s. Freud) und kollektiven (s. C.G. Jung) Unbewussten auf dem
Meer des kosmischen Unbewussten, das dann wiederum oft begriffsverwirrend in
bestimmten Denkrichtungen das Bewusstsein genannt wird, obwohl es mit dem individuellen
Bewusstsein nichts zu tun hat.
Welche Verbindung zwischen den archetypisch-symbolischen
Bildern auf der Ebene gesellschaftlicher und sozialer Strukturen und den
genetisch-biologisch angelegten Strukturen auf der individuellen Ebene die
Verhaltenssteuerung der Masse/Mehrheit i.S. einer
wahrscheinlichkeitstheoretisch beschreibbaren Verhaltensverteilung erklären und
verursachen könnte, deutet der Neurobiologe und Stanford-Professor Sapolsky an:
"Das zeigt, wie tief die
Macht solcher Symbole in unserer Biologie verankert ist. Die Zahl der Morde,
die im Laufe der Geschichte mit religiösen Symbolen in Zusammenhang standen.,
ist außerordentlich hoch.
...
Studien zeigen, dass Fußballfans
bei einem Spiel einem Verletzten eher helfen, wenn er die gleichen Teamfarben
trägt. Warum? Weil Ihr Hirn aufgrund von Symbolen und Zeichen innerhalb von
Millisekunden entscheidet, ob sie jemandem helfen oder nicht. Symbole sind sehr
mächtig." (Sapolsky, R.: "Kein Pavian würde sich wie Trump
benehmen" im Stern vom 5.10.17, S. 111)
So verweist der Gebrauch des
Begriffs „Systemarchetypen“ der systemisch erfolgreichen Praktiker, obwohl er nur
sehr vage mit der Systemtheorie und der Fassung des Begriffs „Archetyp“ von C.G.Jung zusammenhängt, ungewollt und implizit
auf die rational-wissenschaftlich mögliche Erfassung der a-rationalen
Grundlagen des Verhaltens des sozialen, symbolisch gesteuerten Tiers „Mensch“.
Die Soziologie ist zwar
wissenschaftlich „abgestürzt wie ein Computer“ (Wagner 2012), aber ein Neuanfang als wissenschaftlich ernstzunehmende
Struktur-Soziologie auf den Schultern von Durkheim ist möglich und dringend
nötig.
Das elende Mikro-Makro-Problem der Soziologie, wird durch
den „methodologischen Strukturalismus“ wahrscheinlichkeitstheoretisch
aufgelöst. Ausnahmen und Regel sozialen Verhaltens werden berücksichtigt und
erklärt.
Der Mensch ist, soziologisch gesehen, ein soziales, symbolisch
gesteuertes Tier!
Er muss sich selbst als Teil der Natur
begreifen und die sozialen Naturgesetze genauso wissenschaftlich erforschen wie
die physikalischen, wenn er nicht an seinem anthropozentrischen Größenwahn
scheitern und von der Natur evolutionär entsorgt werden will!
Emergenz markiert die ontologisch
unterscheidbaren Ebenen der Natur.
Soziale Prozesse, Kultur und Gesellschaften gehören dazu.
Soziale Prozesse, Kultur und Gesellschaften gehören dazu.
Bei fundamentalen, sozialen
Krisen ist die Zeit für Probier-Spiele zu knapp.
Eine kernsanierte,
wissenschaftliche Soziologie ist möglich und tut not.
Deutsch, D. 2011: The Beginning of Infinity. Explanations
that transform the world. New York: Penguin
Meadows, D.H. 2008: Thinking in Systems – A Primer-. White
River Junction: Chelsea Green Publishing
Scheier, Ch./ Held, D. 2008: Wie Werbung wirkt. Erkenntnisse
des Neuromarketing. Freiburg/Berlin/München: Haufe
Senge, P.
1990: The Fifth Dicipline: The Art and Practice of the Learning Organization.
New York: Doubleday
Sopolsky, R. 2017: „Kein Pavian würde sich wie Trump
benehmen“, Stern vom 5.10.2017, S.111/112
Wang, H. 1996: A Logical Journey. From Gödel to Philosophy.
Cambridge/London: The MIT Press
Wagner, G. 2012: Die Wissenschaftstheorie der Soziologie.
Ein Grundriss. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag
Wegner, D.M. 2002: The Illusion of Conscious Will.
Cambridge: MIT Press