Soziologie-ein fliegender Holländer? https://soziologiedesunbewussten.blogspot.be/2015/12/blog-post

Soziologie- ein fliegender Holländer?

Mein Artikel aus "soziologie heute", Oktober 2015, s. Blog-Artikel vom 2.12.2015

Montag, 6. November 2017

Der wissenschaftliche Abgrund!

Systemarchetypen

Der wissenschaftliche Abgrund zwischen der erfolgreichen systemischen Probier-Praxis und dem wortgewaltigen, elitären Soziotainment systemtheoretischer Sozialphilosophie.

Wissenschaft

Ein anderer Affe als das soziale, symbolisch gesteuerte Tier „Mensch“ ist in der Lage, die Bibel zu schreiben, wenn er zufällig Buchstaben auswählt und unendlich viel Zeit hat.
Er hat es aber bisher noch nicht „geschafft“, jüdische Kinder zu vergasen, Atombomben zu bauen und abzuwerfen und die Meere mit Plastikmüll evolutionär zu bereichern.

Das unterscheidet ihn vom Affen „Mensch“ und hier fängt eine sozialrealistisch-wissenschaftliche Soziologie an, die diese sozialen Prozesse erklären will, soll und kann, jenseits moralistisch-sozialkonstruktivistischer Wunsch-Phantastereien bzw. der emotional-ideologisch motivierten Perversion von statistischen Ausnahmen zu statistisch-normalem Verhalten, um das es in der Soziologie geht.

Der Physiker David Deutsch, ein platonischer Realist, betont die Einheit der Natur und hat das Wesen der wissenschaftlichen Prozesse seit Beginn der Aufklärung herausgearbeitet, die den revolutionären, gewaltigen Zuwachs an Wissen eingeleitet hat.

Die Soziologie befindet sich damit verglichen noch auf einem pubertären, vorwissenschaftlichen Niveau, das die Hilflosigkeit gegenüber den katastrophalen, sozialen Prozessen im Umgang mit dem rasanten technologischen Fortschritt begründet.

Wie aus der Naturphilosophie die Naturwissenschaften entsprungen sind und sich emergent verselbständigt haben, steht dieser Schritt von der Sozialphilosophie zur Sozialwissenschaft (insbesondere Soziologie), die die Bezeichnung „Wissenschaft“ verdient, noch bevor.

Das wichtigste Element, das Wissenschaft ausmacht, sind gute ERKLÄRUNGEN vor dem Hintergrund überzeugender Theorien, die rational-intuitiv (Kurt Gödel/Unvollständigkeitstheoreme) entwickelt werden:
„For most of the history of our species, we had almost no success in creating such knowledge. Where does it come from? Empiricism said that we derive it from sensory experience. This is false. The real source of our theories is conjecture, and the real source of our knowledge is conjecture alternating with criticism.
...
The role of experiment and observation is to chose between existing theories, not to be source of new ones. We interpret experiences through explanatory theories, but true explanations are not obvious. Fallabilism entails not looking to authorities but instead acknowledging that we may always be mistaken, and trying to correct errors. We do so by seeking good explanations- explanations that are hard to vary in the sense that changing the details would ruin the explanation.“ (Deutsch 2011: 32)

Systemische Probier-Spiele

Auf der anderen Seite haben sich seit Beginn der Aufklärung eine Demokratisierung des Denkens und eine dementsprechende Änderung des durchschnittlichen Abstraktionsniveaus ergeben.

Der Rationalismus (Descartes, Spinoza, Leibniz) hat sich mit demokratisch-empirischer Kontrolle auf die Wissenschaft verlagert und durch die Orientierung an theoretisch-abstrakt fundierten Erklärungen jenseits von Autoritätsgläubigkeit gewaltige Fortschritte erzielt.

Dass denkfähige, systemisch arbeitende Praktiker noch Zugang zu dieser abstrakten Dimension ihres Hintergrundes haben, zeigt ein Gedanke von Donella H. Meadows:
„I don’t deal with the most abstract theories and am interested in analysis only when i can see how it helps solve real problems. When the abstract end of systems theory does that, which I believe it will some day, another book will have to be written.“ (Meadows 2008: IX)

Den deutschen Systemtheoretiker Luhmann sucht man bei der international etablierten systemischen Praxis vergebens, er wird nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt.

Heuristisch können seine Arbeiten allerdings sehr wohl anregend sein für eine sozialrealistisch-wissenschaftliche Soziologie, wenn sie vom sozialkonstruktivistischen Ballast befreit und ontologisch-kausal im Sinne des von mir angedeuteten „methodologischen Strukturalismus“ wahrscheinlichkeitstheoretisch umformuliert werden. Am Beispiel der „Autopoiese“ könnte das prominent demonstriert werden.

Meadows arbeitet wie alle erfolgreichen systemischen Praktiker mit der intuitiven Wahrnehmung der Wirkung von System-Strukturen auf das Verhalten der beteiligten Individuen. Ihr Erfolg ist persönlichkeits- und nicht theoretisch-wissenschaftlich-bedingt.

Ihre Definition der Strukturen, die sie Archetypen nennt, ist erstaunlicherweise identisch mit der von mir verwendeten Fassung von relational entstehenden, sich ontologisch verselbständigenden Strukturen:
„Common system structures that produce characteristic patterns of behavior“ (Meadows 2008: 187)

Der Begriff „Systemarchetyp“ stammt vom Guru der systemischen Organisationsarbeit Peter M. Senge: „Systemarchetyp ist ein vom US-Amerikaner Peter M. Senge kreierter Begriff zur systemischen Beschreibung und Darstellung von generischen Strukturen häufig beobachtbarer Verhaltensmuster von Menschen.“ (wikipedia)

Es geht ihm also um die abstrakten Verhaltensmuster der Individuen, die er damit beschreibt und NICHT um die Erklärung dieser Verhaltensmuster durch eine sich verselbständigende Struktur, die eine wissenschaftliche Theorie voraussetzen würde. Der Blick bleibt systemisch-individualistisch, wie üblich innerhalb des materialistisch-interaktionistischen Paradigmas.

So beschreibt Meadows ein System wie folgt:
„A set of elements or parts that is coherently organized and interconnected in a pattern or structure that produces a characterstic set of behaviors, often classified as its ‚function’ or ‚purpose’.“ (Meadows 2008: 188)
Eine immaterielle, physisch wirksame, REALE Struktur, die die Verhaltensverteilung in Systemen verursacht, kommt im Programm nicht vor, da die Beteiligten primär als rationale operierende Akteure konzipiert werden, die jederzeit aktiv das System und die Strukturen gestalten.

In den Naturwissenschaften taucht das Problem abstrakter Strukturen genauso auf, wenn es um die wissenschaftlich immer angestrebte Vereinheitlichung von separaten Theorien geht.
David Deutsch, auch Autor der „Fabric of Reality“, bietet mit seiner „Konstruktor-Theorie“ eine gewöhnungsbedürftige und nicht leicht nachvollziehbare, aber letztlich logisch und ontologisch schlüssige Informationstheorie an, die ein neues Fundament für die Integration der Quantenmechanik, der Evolutionstheorie und der Quanten-Informatik bietet.

Zu den Themen „Emergenz und Abstraktion“ schreibt er scharfsinnig:
„Reductionism and holism are both mistakes. In reality, explanations do not form a hierarchy with the lowest level being the most fundamental. Rather, explanations at any level of emergence can be fundamental. Abstract entities are real, and can play a role in causing physical phenomena. Causation is itself an abstraction.“ (Deutsch 2011: 124)

Der defizitäre Umgang mit abstrakten Konzepten und Strukturen blockiert in der Soziologie den sozialrealistischen Zugang zum Verhältnis von Strukturen und den beteiligten Individuen.

Auch Kurt Gödel, der geniale Logiker und Mathematiker (Unvollständigkeitstheoreme), hat den dominierenden Materialismus als Irrweg der Wissenschaft angesehen.

Eigentlich naheliegend, wenn man bedenkt, dass man einen Gedanken nicht anfassen kann, er aber unbestreitbar real ist und eine physisch-materielle, messbare Wirkung haben kann.

Der an anderer Stelle von mir angedeutete „methodologische Strukturalismus“ berücksichtigt die relationale Dimension der Struktur, die emergente Eigenschaften entwickelt, die NICHT auf die statistisch-normalen Aktionen der Individuen reduzierbar sind.

Er schließt sich letztendlich an den postmodern vernachlässigten und/oder methodologisch individualisierten Geist Durkheims an, nicht zu verwechseln mit der philologisch-historischen Buchstaben-Exegese, die eine fruchtbare Weiterentwicklung seiner Grundgedanken blockiert.

„Laut Durkheim ist ein sozialer Tatbestand „(...) jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“[1]“....
„Der Zwang wird aber lediglich unbewusst wahrgenommen und erst dann Gegenstand von Reflexion, wenn man sich außerhalb der durch den sozialen Tatbestand gesteckten Grenzen befindet.“ (wikipedia)
Durkheim spricht dabei bekanntermaßen von einem „kollektiven Bewusstsein“.
Von hieraus ist der Weg nicht mehr weit zu der von mir angedeuteten „Soziologie des Unbewussten“, die formale Strukturen als physisch realisierte Produkte menschlichen Denkens (Phänomen/Wirklichkeit) und seines unbewussten Hintergrundes (Realität) begreift.

Archetypen

Vor Durkheim wurde das Unbewusste implizit und explizit von Philosophen wie z.B. Plato, Spinoza (Theorie der Affekte), Schopenhauer (Wille), Nietzsche (Macht), Hegel (Weltgeist) prominent behandelt.
Während seiner Zeit wurde es vor allen Dingen von Le Bon („Psychologie der Massen“) und von E. v. Hartmann („Philosophie des Unbewussten“) thematisiert.

Nach ihm haben u.a. Freud, C.G. Jung, Pawlow, die Gestaltpsychologie, Goebbels und der Nationalsozialismus, die Werbewirtschaft/Propaganda und aktuell die Kognitionswissenschaften das Unbewusste weiter erforscht und/oder benutzt.

Der Marlboro-Cowboy reitet Menschen ebenso zu Tode vor dem Hintergrund einer perversen Freiheitsideologie wie Goebbels sie bis zum „Wollt ihr den totalen Krieg?“ verrecken und aus Überzeugung „Ja!“ schreien ließ.

„Symbole transportieren implizite, kulturell gelernte Bedeutungen besonders effizient. Symbole können unmittelbar Verhaltensprogramme im Autopiloten aktivieren.“ (Scheier/Held 2008: 75)

Nicht die individuell-bewusste Motivation steuert das Verhalten, sondern wie das „Züricher Modell der sozialen Motivation“ von Norbert Bischof es formuliert, grundlegende, implizit-unbewusst auslösende Motive wie „Sicherheit“, „Erregung/Abenteuer“ oder „Unabhängigkeit“. (s. Scheier/Held 2008)

Dass das Bewusstsein für die Erklärung des sozialen Verhaltens nur sehr bedingt, wenn überhaupt, eine Rolle spielt, beweist nicht nur das berühmte Libet-Experiment, sondern auch weitergehende psychologische Forschungen, die davon ausgehen, dass es primär ein Gefühl ist (awareness), das dazu dient, Handlungen zu rationalisieren, also sie nachträglich zu begründen und persönlich zuzuordnen (Wegener 2002).

Das Bewusstsein ist die emergente Spitz des Eisbergs des individuellen (s. Freud) und kollektiven (s. C.G. Jung) Unbewussten auf dem Meer des kosmischen Unbewussten, das dann wiederum oft begriffsverwirrend in bestimmten Denkrichtungen das Bewusstsein genannt wird, obwohl es mit dem individuellen Bewusstsein nichts zu tun hat.

Welche Verbindung zwischen den archetypisch-symbolischen Bildern auf der Ebene gesellschaftlicher und sozialer Strukturen und den genetisch-biologisch angelegten Strukturen auf der individuellen Ebene die Verhaltenssteuerung der Masse/Mehrheit i.S. einer wahrscheinlichkeitstheoretisch beschreibbaren Verhaltensverteilung erklären und verursachen könnte, deutet der Neurobiologe und Stanford-Professor Sapolsky an:
"Das zeigt, wie tief die Macht solcher Symbole in unserer Biologie verankert ist. Die Zahl der Morde, die im Laufe der Geschichte mit religiösen Symbolen in Zusammenhang standen., ist außerordentlich hoch.
...
Studien zeigen, dass Fußballfans bei einem Spiel einem Verletzten eher helfen, wenn er die gleichen Teamfarben trägt. Warum? Weil Ihr Hirn aufgrund von Symbolen und Zeichen innerhalb von Millisekunden entscheidet, ob sie jemandem helfen oder nicht. Symbole sind sehr mächtig." (Sapolsky, R.: "Kein Pavian würde sich wie Trump benehmen" im Stern vom 5.10.17, S. 111)

So verweist der Gebrauch des Begriffs Systemarchetypen der systemisch erfolgreichen Praktiker, obwohl er nur sehr vage mit der Systemtheorie und der Fassung des Begriffs Archetyp von C.G.Jung zusammenhängt, ungewollt und implizit auf die rational-wissenschaftlich mögliche Erfassung der a-rationalen Grundlagen des Verhaltens des sozialen, symbolisch gesteuerten Tiers Mensch.

Die Soziologie ist zwar wissenschaftlich abgestürzt wie ein Computer (Wagner 2012), aber ein Neuanfang als wissenschaftlich ernstzunehmende Struktur-Soziologie auf den Schultern von Durkheim ist möglich und dringend nötig.

Das elende Mikro-Makro-Problem der Soziologie, wird durch den „methodologischen Strukturalismus“ wahrscheinlichkeitstheoretisch aufgelöst. Ausnahmen und Regel sozialen Verhaltens werden berücksichtigt und erklärt.

Der Mensch ist, soziologisch gesehen, ein soziales, symbolisch gesteuertes Tier!
Er muss sich selbst als Teil der Natur begreifen und die sozialen Naturgesetze genauso wissenschaftlich erforschen wie die physikalischen, wenn er nicht an seinem anthropozentrischen Größenwahn scheitern und von der Natur evolutionär entsorgt werden will!
Emergenz markiert die ontologisch unterscheidbaren Ebenen der Natur.
Soziale Prozesse, Kultur und Gesellschaften gehören dazu.
Bei fundamentalen, sozialen Krisen ist die Zeit für Probier-Spiele zu knapp.
Eine kernsanierte, wissenschaftliche Soziologie ist möglich und tut not.


Deutsch, D. 2011: The Beginning of Infinity. Explanations that transform the world. New York: Penguin
Meadows, D.H. 2008: Thinking in Systems – A Primer-. White River Junction: Chelsea Green Publishing
Scheier, Ch./ Held, D. 2008: Wie Werbung wirkt. Erkenntnisse des Neuromarketing. Freiburg/Berlin/München: Haufe
Senge, P. 1990: The Fifth Dicipline: The Art and Practice of the Learning Organization. New York: Doubleday
Sopolsky, R. 2017: „Kein Pavian würde sich wie Trump benehmen“, Stern vom 5.10.2017, S.111/112
Wang, H. 1996: A Logical Journey. From Gödel to Philosophy. Cambridge/London: The MIT Press
Wagner, G. 2012: Die Wissenschaftstheorie der Soziologie. Ein Grundriss. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag

Wegner, D.M. 2002: The Illusion of Conscious Will. Cambridge: MIT Press