Soziologie-ein fliegender Holländer? https://soziologiedesunbewussten.blogspot.be/2015/12/blog-post

Soziologie- ein fliegender Holländer?

Mein Artikel aus "soziologie heute", Oktober 2015, s. Blog-Artikel vom 2.12.2015

Sonntag, 13. September 2015

"Rational choice" und Struktur (Esser)



Aus meiner "Soziologie des Unbewussten":

"5.11.Esser



Jede auf gesellschaftliche Entwicklungen und Zusammenhänge angewandte, strikt ausgeübte Makro-Soziologie beruht überdies auf einer- inzwischen: nachweislich-unzutreffende Hypothese, nämlich daß es makro-soziologische Gesetze „sui generis“ gäbe. Nach rund 100 Jahren Makro-Soziologie ist nicht ein solches Gesetz gefunden worden. Und wenn es eines gäbe: zu „verstehen“ wäre dann immer noch nicht, warum dieser kollektive Zusammenhang besteht. Aber genau das sollte die Soziologie ja doch eigentlich herausfinden.“ (Esser 1999: 597)
Esser gesteht zu:
Die Soziologie ist in (fast) jeder Variante eigentlich nur an den Strukturen der Gesellschaft interessiert.“ (Esser 1999: 419)
Die Grundidee der strukturellen Soziologie, die er nachweisbar für gescheitert erklärt
ist bestechend einfach: Über die Strukturen der Gesellschaft verteilen sich die ‚Chancen‘ für das Verhalten und für die sozialen Beziehungen der Menschen systematisch. … Akteure werden so scheint es dabei-ganz ähnlich wie bei Durkheims Ansatz- eigentlich nicht benötigt.“ (Esser 1999: 419/420)
Die Ursache hierfür sei der „kollektivistische Fehlschluß“:
Diesem Fehlschluß unterliegen alle theoretischen Konzepte, die von der Gesellschaft als Wesen sui generis und von der Eigendynamik der Strukturen der Gesellschaft, von historischen Gesamtplänen, von objektiven Entwicklungsgesetzen ausgehen – wie Marx, Durkheim oder auch Parsons. Es wird davon ausgegangen, daß die Akteure und deren Handeln für die Erklärung im Grunde überflüssig sind.“ (Esser 1999: 593)
Um diesen Fehlschluß und den entgegengesetzten „psychologistischen Fehlschluß“ zu vermeiden, sieht Esser in der verstehend-erklärenden Soziologie Max Webers die wissenschaftlich einzig mögliche Modellierung:
Situation - Akteur-soziales Handeln-externe Effekte
Dass er selber einem rationalistischen Fehlschluss unterliegt, wird deutlich, wenn er am Ende seines Buches über die allgemeinen Grundlagen der Soziologie neben Elias noch Giddens „Theorie der Strukturierung“ als relevant akzeptiert, weil sie „implizit an den lange verschütteten Grundgedanken der schottischen Moralphilosophen und an bestimmten Orientierungshypothesen von Karl Marx anknüpfen. Er stellt fest:
Nach welchen genaueren Regeln selektieren eigentlich die Akteure ihre intentionalen Handlungen? …..Wie sollen die Aggregationsprobleme zur Erklärung der emergenten Folgen gelöst werden? (Esser 1999: 616)
Aus dem intentionalen Handeln der Akteure und ihrem Selbstverständnis kann keine kausale Erklärung der Strukturen gelingen, weil sie dem typischen sozialen Verhalten, das erklärt werden soll, zeitlich vorausgehen. Logisch unmöglich.
Strukturen können in Anlehnung an Durkheim typisches, wahrscheinliches Verhalten erklären. Dazu ist allerdings ein Modell notwendig, das die a-rationalen biologischen und psychologischen Potentiale der Menschen in ihrer Divergenz mit Aktualisierungen durch die emotional relevanten Elemente von Strukturen verbindet. Dies ist wiederum nur über ein Verständnis und eine Konzeption des Unbewussten möglich, das archetypische, mythische und symbolische kollektive Muster mit den seelisch –unbewussten individuellen Prozessen verbindet.
Neueste neurowissenschaftliche Forschungen bestätigen, dass das Selbstverständnis der Menschen als primär rational bzw. zweckrational operierende Wesen eine Illusion ist.
Selbst in der Ökonomie, der das zweckrationale Menschenbild entlehnt ist, werden andere Ansätze verfolgt, z.B. in der Finanzökonomie das Thema „Behavioral Finance“.
Damit hat natürlich jede interpretative, „sinnorientierte“ Soziologie ein Problem, die jeder kausal operierenden Makro- und Struktursoziologie „notorische Unvollständigkeit“ und „Sinn“-losigkeit attestieren zu können glaubt.
Die Ablehnung hat dann schon deutlich ideologische und dogmatische Züge, wenn Esser schreibt:
Der am Beginn dieses Kapitels deutlich betonte interpretative Gesichtspunkt geht davon aus, daß derart „sinn“-lose Erklärungen in der Soziologie grundsätzlich vermieden werden sollten. Er legt die Mikro-vertiefung auch dann nahe, WENN ES KEINERLEI SONSTIGE PROBLEME MIT DEN „GESETZEN“ DER GESELLSCHAFT GÄBE (Hervorh.G.A.Sch.).“ (Esser 1999: 102)
Andererseits räumt er bei seinem Beispiel der Erklärung von Webers „Geist des Kapitalismus“ mit Hilfe seiner „Tiefenerklärung“ und dem dabei notwendigen Aggregationsverfahrens ein:
Etwas unbefriedigend ist dagegen der dritte Schritt: Es wird nicht klar, wie die Logik der Aggregation aussehen soll. Denn der Geist des Kapitalismus dürfte ja wohl nicht allein daraus bestehen, daß es mit einem Male ganze Heerscharen von Unternehmern gibt, die alle das Produkt ihrer protestantischen Mutter sind.“ (Esser 1999: 100)
Dies ist nicht ausnahmsweise ein Problem einer individualistischen Erklärung von Strukturen, sondern ein grundlegendes Defizit, das den eigenen Ansprüchen nur mit Hilfe von Kompositionsregeln gerecht werden könnte.
Doch da gilt, wie Bühl wunderbar darlegt:
D.h.: wenn es gelungen ist, Kollektivphänomene (wie z.B. die nationale Identität) in Individualtermen auszudrücken (z.B. als Meinungen, Attitüden, Handlungen von Individuen bezüglich ihrer eigenen oder fremden Nationalität), dann muss immer noch erklärt werden, nach welchen Gesetzen diese individuellen Akte disaggregiert worden sind und wieder auf der Makroebene zu aggregieren sind. Wenn stattdessen nur die Worthülse „Aggregation“ gebraucht wird und kein Kompositionsgesetz angegeben werden kann, dann liegt auch im Sinne des gemäßigten methodologischen Individualismus keine gültige Erklärung vor.“ (Bühl 2000: 46/47)
Genau darum geht es soziologisch. Die Struktur „Geist des Kapitalismus“ ist NICHT durch das aggregierte, typische Verhalten der beteiligten Unternehmer zu erklären, sondern aus dem abweichenden Verhalten desjenigen oder derjenigen, die die protestantische Ethik in die Welt gebracht haben.
An der letztgenannten Stelle ist der "gemeinte Sinn" sinnvoll, aber keinesfalls in der Analyse des TYPISCHEN Verhaltens auf der Basis der Struktur, die sich daraufhin entwickelt hat und bestand, BEVOR sich die individuellen Unternehmer rational und/oder unbewusst entschieden haben, Unternehmer zu werden.
Kausalität setzt auch die zeitliche Dimension des „Vorher/Nachher“ voraus, wenn sie wissenschaftlich akzeptabel sein soll."