Aus meiner "Soziologie des Unbewussten":
"5.11.Esser
„Jede auf gesellschaftliche Entwicklungen und Zusammenhänge
angewandte, strikt ausgeübte Makro-Soziologie beruht überdies auf
einer- inzwischen: nachweislich-unzutreffende Hypothese, nämlich daß
es makro-soziologische Gesetze „sui generis“ gäbe. Nach rund 100
Jahren Makro-Soziologie ist nicht ein solches Gesetz gefunden worden.
Und wenn es eines gäbe: zu „verstehen“ wäre dann immer noch
nicht, warum dieser kollektive Zusammenhang besteht. Aber genau das
sollte die Soziologie ja doch eigentlich herausfinden.“ (Esser
1999: 597)
Esser gesteht zu:
„Die Soziologie ist in (fast) jeder Variante eigentlich nur an
den Strukturen der Gesellschaft interessiert.“ (Esser 1999:
419)
Die Grundidee der strukturellen
Soziologie, die er nachweisbar für gescheitert erklärt
„ist bestechend einfach: Über die Strukturen der Gesellschaft
verteilen sich die ‚Chancen‘ für das Verhalten und für die
sozialen Beziehungen der Menschen systematisch. … Akteure werden so
scheint es dabei-ganz ähnlich wie bei Durkheims Ansatz- eigentlich
nicht benötigt.“ (Esser 1999: 419/420)
Die Ursache hierfür sei der
„kollektivistische Fehlschluß“:
„Diesem Fehlschluß unterliegen alle theoretischen Konzepte, die
von der Gesellschaft als Wesen sui generis und von der Eigendynamik
der Strukturen der Gesellschaft, von historischen Gesamtplänen, von
objektiven Entwicklungsgesetzen ausgehen – wie Marx, Durkheim oder
auch Parsons. Es wird davon ausgegangen, daß die Akteure und deren
Handeln für die Erklärung im Grunde überflüssig sind.“ (Esser
1999: 593)
Um diesen Fehlschluß und den
entgegengesetzten „psychologistischen Fehlschluß“ zu vermeiden,
sieht Esser in der verstehend-erklärenden Soziologie Max Webers die
wissenschaftlich einzig mögliche Modellierung:
Situation -
Akteur-soziales
Handeln-externe Effekte
Dass er selber einem
rationalistischen Fehlschluss unterliegt, wird deutlich, wenn er am
Ende seines Buches über die allgemeinen Grundlagen der Soziologie
neben Elias noch Giddens „Theorie der Strukturierung“ als
relevant akzeptiert, weil sie „implizit an den lange verschütteten
Grundgedanken der schottischen Moralphilosophen und an bestimmten
Orientierungshypothesen von Karl Marx anknüpfen. Er stellt fest:
„Nach welchen genaueren Regeln selektieren eigentlich die
Akteure ihre intentionalen Handlungen? …..Wie sollen die
Aggregationsprobleme zur Erklärung der emergenten Folgen gelöst
werden? (Esser 1999: 616)
Aus dem intentionalen Handeln der
Akteure und ihrem Selbstverständnis kann keine kausale Erklärung
der Strukturen gelingen, weil sie dem typischen sozialen Verhalten,
das erklärt werden soll, zeitlich vorausgehen. Logisch unmöglich.
Strukturen können in Anlehnung an
Durkheim typisches, wahrscheinliches Verhalten erklären. Dazu ist
allerdings ein Modell notwendig, das die a-rationalen biologischen
und psychologischen Potentiale der Menschen in ihrer Divergenz mit
Aktualisierungen durch die emotional relevanten Elemente von
Strukturen verbindet. Dies ist wiederum nur über ein Verständnis
und eine Konzeption des Unbewussten möglich, das
archetypische, mythische und symbolische kollektive Muster mit den
seelisch –unbewussten individuellen Prozessen verbindet.
Neueste neurowissenschaftliche
Forschungen bestätigen, dass das Selbstverständnis der Menschen als
primär rational bzw. zweckrational operierende Wesen eine Illusion
ist.
Selbst in der Ökonomie, der das
zweckrationale Menschenbild entlehnt ist, werden andere Ansätze
verfolgt, z.B. in der Finanzökonomie das Thema „Behavioral
Finance“.
Damit hat natürlich jede
interpretative, „sinnorientierte“ Soziologie ein Problem, die
jeder kausal operierenden Makro- und Struktursoziologie „notorische
Unvollständigkeit“ und „Sinn“-losigkeit attestieren zu können
glaubt.
Die Ablehnung hat dann schon
deutlich ideologische und dogmatische Züge, wenn Esser schreibt:
„Der am Beginn dieses Kapitels deutlich betonte interpretative
Gesichtspunkt geht davon aus, daß derart „sinn“-lose Erklärungen
in der Soziologie grundsätzlich vermieden werden sollten. Er legt
die Mikro-vertiefung auch dann nahe, WENN ES KEINERLEI SONSTIGE
PROBLEME MIT DEN „GESETZEN“ DER GESELLSCHAFT GÄBE
(Hervorh.G.A.Sch.).“ (Esser 1999: 102)
Andererseits räumt er bei seinem
Beispiel der Erklärung von Webers „Geist des Kapitalismus“ mit
Hilfe seiner „Tiefenerklärung“ und dem dabei notwendigen
Aggregationsverfahrens ein:
„Etwas unbefriedigend ist dagegen der dritte Schritt: Es wird
nicht klar, wie die Logik der Aggregation aussehen soll. Denn der
Geist des Kapitalismus dürfte ja wohl nicht allein daraus bestehen,
daß es mit einem Male ganze Heerscharen von Unternehmern gibt, die
alle das Produkt ihrer protestantischen Mutter sind.“ (Esser 1999:
100)
Dies ist nicht ausnahmsweise ein
Problem einer individualistischen Erklärung von Strukturen, sondern
ein grundlegendes Defizit, das den eigenen Ansprüchen nur mit Hilfe
von Kompositionsregeln gerecht werden könnte.
Doch da gilt, wie Bühl wunderbar
darlegt:
„D.h.: wenn es gelungen ist, Kollektivphänomene (wie z.B. die
nationale Identität) in Individualtermen auszudrücken (z.B. als
Meinungen, Attitüden, Handlungen von Individuen bezüglich ihrer
eigenen oder fremden Nationalität), dann muss immer noch erklärt
werden, nach welchen Gesetzen diese individuellen Akte disaggregiert
worden sind und wieder auf der Makroebene zu aggregieren sind. Wenn
stattdessen nur die Worthülse „Aggregation“ gebraucht wird und
kein Kompositionsgesetz angegeben werden kann, dann liegt auch im
Sinne des gemäßigten methodologischen Individualismus keine gültige
Erklärung vor.“ (Bühl 2000: 46/47)
Genau darum geht es soziologisch.
Die Struktur „Geist des Kapitalismus“ ist NICHT durch das
aggregierte, typische Verhalten der beteiligten Unternehmer zu
erklären, sondern aus dem abweichenden Verhalten desjenigen oder
derjenigen, die die protestantische Ethik in die Welt gebracht haben.
An der letztgenannten Stelle ist der
"gemeinte Sinn" sinnvoll, aber keinesfalls in der Analyse des TYPISCHEN
Verhaltens auf der Basis der Struktur, die sich daraufhin entwickelt
hat und bestand, BEVOR sich die individuellen Unternehmer rational und/oder
unbewusst entschieden haben, Unternehmer zu werden.
Kausalität setzt auch die zeitliche
Dimension des „Vorher/Nachher“ voraus, wenn sie wissenschaftlich
akzeptabel sein soll."